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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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telefoniert hatte, hatte ich mich noch so stark und zufrieden gefühlt, aber davon war jetzt nichts mehr zu spüren. Ich war nur noch aufgewühlt, mehr nicht.
    Ich humpelte zu meinen Lagerplatz zurück und untersuchte meine großen Zehen. Schon die kleinste Berührung war schmerzhaft. Ich konnte sie buchstäblich pochen sehen – das Blut unter dem Fleisch pulsierte in einem gleichmäßigen Rhythmus und ließ die Nägel abwechselnd rot und weiß erscheinen. Die Zehen waren so geschwollen, dass es aussah, als würden die Nägel einfach irgendwann abgehen. Da kam mir die Idee, ein wenig nachzuhelfen. Ich nahm einen zwischen Daumen und Zeigefinger und zog kräftig daran, dann noch einmal, und begleitet von einem schneidenden Schmerz gab der Nagel nach, und ich verspürte nahezu sofort Erleichterung. Augenblicke später tat ich dasselbe mit dem anderen Zeh.
    Um meine Zehennägel war ein Kampf entbrannt zwischen mir und dem Trail.
    Im Moment stand es sechs zu vier, aber mein Vorsprung war knapp.
    Bei Einbruch der Dunkelheit bekam ich Gesellschaft von vier anderen PCT-Wanderern. Ich verbrannte gerade die letzten Seiten von Der Sommervogel in meiner kleinen Alu-Backform, als sie auf der Lichtung auftauchten, zwei Paare etwa in meinem Alter, die die gesamte Strecke von Mexiko bis hierher abgewandert waren bis auf den verschneiten Teil der Sierra Nevada, den auch ich übersprungen hatte. Beide waren getrennt aufgebrochen, hatten sich aber in Südkalifornien kennengelernt und waren dann wochenlang gemeinsam gewandert. John und Sarah stammten aus Alberta in Kanada und waren noch kein Jahr zusammen gewesen, als sie mit der Wanderung auf dem PCT begannen. Sam und Helen waren verheiratet und kamen aus Maine. Sie wollten am nächsten Tag eine Pause einlegen, aber ich wollte weiter, sobald meine neuen Stiefel eintrafen.
    Am nächsten Morgen packte ich zusammen, band meine Stiefel an den Rucksackrahmen und marschierte in Sandalen zum Laden. Ich setzte mich an einen Picknicktisch und wartete auf das Eintreffen der Post. Ich war nicht sonderlich darauf erpicht weiterzuwandern, denn mir war nicht nach Wandern zumute, aber es musste sein. Wenn ich die Versorgungspunkte einigermaßen pünktlich an den vorgesehenen Tagen erreichen wollte, musste ich den Zeitplan einhalten. Trotz der vielen Routenänderungen und Umgehungen, die meinen Finanzen und dem Wetter geschuldet waren, musste ich die Reise wie vorgesehen Mitte September beenden. Ich verkürzte mir die stundenlange Wartezeit damit, dass ich in dem Buch las, das mit meinem Paket gekommen war – Lolita von Vladimir Nabokov. Leute kamen und gingen. Manche kamen zu mir, da ihnen mein Rucksack aufgefallen war, und fragten mich nach dem PCT. Wenn ich ihnen antwortete, verflüchtigten sich meine Zweifel an meiner Trail-Tauglichkeit für Minuten, und ich vergaß völlig, wie idiotisch ich mich verhalten hatte. Ich sonnte mich in der Aufmerksamkeit dieser Leute und kam mir nicht nur wie eine Wanderexpertin vor, sondern wie eine taffe Amazonenkönigin.
    »Ich rate Ihnen, das in Ihrem Lebenslauf zu erwähnen«, sagte eine alte Dame aus Florida, die eine hellrosa Schirmmütze und mehrere Goldketten um den Hals trug. »Ich habe früher im Personalmanagement gearbeitet. Arbeitgeber suchen nach so etwas. Das verrät ihnen, dass Sie Charakter haben. Das hebt Sie aus den anderen heraus.«
    Der Postfahrer kam gegen drei. Der UPS-Typ eine Stunde später. Keiner von beiden hatte meine Stiefel dabei. Ernüchtert ging ich zum Münzfernsprecher und rief bei REI an.
    Sie hätten meine Stiefel noch nicht losgeschickt, teilte mir der Mann am anderen Ende der Leitung höflich mit und erklärte mir, wo das Problem lag: Wie sie erfahren hatten, war es nicht möglich, die Stiefel mit der Nachtpost in den Park zu schicken, also hatten sie sie mit der normalen Post schicken wollen. Da sie aber nicht gewusst hatten, wie sie mich kontaktieren und davon unterrichten sollten, hatten sie gar nichts getan. »Ich glaube, Sie verstehen nicht«, sagte ich. »Ich wandere auf dem PCT. Ich schlafe im Wald. Natürlich konnten Sie mich da nicht erreichen. Und ich kann hier nicht warten, bis … Wie lange brauchen die Stiefel denn mit der normalen Post?«
    »Etwa fünf Tage«, antwortete er unbeeindruckt.
    »Fünf Tage?« Ich konnte mich gar nicht richtig aufregen. Schließlich schickten sie mir kostenlos ein neues Paar Stiefel. Gleichwohl war ich enttäuscht und geriet leicht in Panik. Abgesehen davon, dass ich meinen Zeitplan

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