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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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Wanderführer im Winter zuvor gelesen, aber erst jetzt – ein paar Kilometer hinter den Burney Falls, als ich in meinen windigen Sandalen durch die frühabendliche Hitze marschierte – kam mir der tiefere Sinn dieser Geschichte zu Bewusstsein. So absurd es auch erscheinen mochte: Als Catherine Montgomery, Clinton Clarke, Warren Rogers und die vielen hundert anderen, die den PCT geschaffen hatten, an die Menschen dachten, die auf diesem Pfad wandern würden, der auf den Höhen unserer westlichen Gebirgszüge entlangführte, hatten sie auch an mich gedacht. Dass ihnen meine gesamte Ausrüstung, von meinen billigen Sonderangebotssandalen bis zu meinen Stiefeln und meinem Rucksack, die 1995 dem neuesten Stand der Technik entsprachen, fremd gewesen wäre, spielte keine Rolle, denn das, worauf es ankam, war absolut zeitlos. Was sie dazu getrieben hatte, allen Widrigkeiten zum Trotz für den Trail zu kämpfen, war dasselbe, was mich und alle anderen Fernwanderer auch an den schlimmsten Tagen zum Weitermachen bewegte. Aber mit Ausrüstung, Schuhwerk oder zeitverhafteten Moden und Philosophien rund ums Rucksackwandern hatte das nichts zu tun. Noch nicht einmal damit, wie man am besten von Punkt A nach Punkt B kam.
    Es ging nur darum, die Wildnis zu erleben. Zu erleben, wie es war, kilometerweit zu wandern zu keinem anderen Zweck als dem, Bäume und Wiesen zu sehen, Berge und Wüsten, Bäche und Felsen, Flüsse und Gräser, Sonnenauf- und Sonnenuntergänge. Für mich war das eine eindrucksvolle und elementare Erfahrung. Mir schien, dass es Menschen in der Wildnis immer so ergangen war und immer so ergehen würde, solange es noch eine Wildnis gab. Ich nahm an, dass Montgomery das gewusst hatte. Und auch Clarke und Rogers und die vielen tausend Menschen, die ihnen vorangegangen und nachgefolgt waren. Ich wusste es, bevor es mir wirklich bewusst war, bevor ich ahnen konnte, wie hart und wie herrlich der PCT tatsächlich war, wie sehr er meine Kräfte strapazieren und mir gleichzeitig eine Heimat sein würde.
    Daran dachte ich, als ich im feuchten Schatten von Gelbkiefern und Douglasien meine sechste Woche auf dem Trail in Angriff nahm. Ich spürte den steinigen Pfad durch die dünnen Sohlen der Sandalen. Die Muskulatur in den Fußgelenken, denen ohne Stiefel der Halt fehlte, fühlte sich verspannt an, aber wenigstens stieß ich nicht bei jedem Schritt mit den wunden Zehen gegen die Kappen. Ich wanderte, bis ich an eine Holzbrücke kam, die sich über einen Bach spannte. Da ich in der Nähe keine ebene Stelle fand, errichtete ich das Zelt direkt auf der Brücke, also mitten auf dem Trail, und hörte die ganze Nacht im Schlaf das sanfte Tosen des kleinen Wasserfalls unter mir.
    Ich erwachte, sobald es hell wurde, und wanderte in den Sandalen mehrere Stunden. Dabei überwand ich rund 500 Höhenmeter und erhaschte von Zeit zu Zeit, wenn sich der schattige Tannen- und Kiefernwald etwas lichtete, einen Blick auf den Burney Mountain im Süden. In der Mittagspause band ich widerwillig die Stiefel vom Rucksack los, da ich mir keinen anderen Rat mehr wusste, als sie anzuziehen. Ich hatte einen ersten Vorgeschmack darauf bekommen, wovor die Autoren von The Pacific Crest Trail, Volume I: California in ihrer Einführung zu dem Kapitel warnten, in dem sie die Strecke zwischen den Burney Falls und Castle Crags beschrieben. Nach ihrer Auskunft wurde dieser Abschnitt so schlecht instand gehalten, dass er stellenweise »kaum besser ist als ein Querfeldein-Parcours«, und das verhieß nichts Gutes für meine Sandalen. Schon jetzt zeigten sie erste Auflösungserscheinungen. Die Sohlen gingen ab, klappten bei jedem Schritt auf und fingen kleine Zweige und Steine ein.
    Ich zwängte meine Füße wieder in die Stiefel und wanderte, die Schmerzen ignorierend, weiter. Auf einem Anstieg kam ich an zwei gespenstisch wirkenden Hochspannungsmasten vorüber, die ein unheimliches Knistern von sich gaben. Im Lauf des Tages kamen im Nordwesten ein paarmal der Bald Mountain und der Grizzly Peak in Sicht – dunkelgrüne und braune Berge mit wenigen windzerzausten Bäumen und Sträuchern –, aber meist führte der Pfad durch dichten Wald, und immer häufiger kreuzte er Forstwege mit tiefen Traktorspuren. Ich kam an älteren Kahlschlägen vorbei, die langsam wieder zum Leben erwachten, weiten abgeholzten Flächen mit Baumstümpfen, Wurzeln und kleinen grünen Bäumen, die nicht größer waren als ich. An manchen Stellen war der Trail nicht mehr begehbar und

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