Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
viel Wasser, wie ich vertrug, und las, solange die anderen noch schliefen, nacheinander alle neun Briefe. Paul schrieb gelassen und liebevoll über unsere Scheidung. Joe war schwärmerisch und fahrig, ließ aber unerwähnt, ob er einen Entzug machte. Karen berichtete kurz und knapp Alltägliches aus ihrem Leben. Die Briefe der anderen flossen über von lieben Grüßen und Klatsch, Neuigkeiten und lustigen Geschichten.Als ich alle gelesen hatte, tauchten die anderen aus ihren Zelten auf und begannen humpelnd ihren Tag, so wie ich jeden Morgen, bis meine Gelenke aufgewärmt waren. Ich war froh, dass jeder von ihnen wenigstens halb so verkatert aussah wie ich. Wir grinsten einander amüsiert an, obwohl wir uns elend fühlten. Helen, Sam und Sarah gingen duschen, Rex und Stacy wollten dem Laden einen weiteren Besuch abstatten.
»Die haben Zimtschnecken«, sagte Rex, um mich zum Mitkommen zu bewegen, aber ich winkte ab, und nicht nur, weil sich mir beim Gedanken an Essen der Magen umdrehte. Die Burger, der Wein und die Snacks vom gestrigen Nachmittag hatten wieder mal ein tiefes Loch in meine Kasse gerissen. Ich besaß nur noch knapp fünf Dollar.
Während die anderen loszogen, sortierte ich den Inhalt meines Versorgungspakets und legte alle Lebensmittel, die ich im Rucksack verstauen wollte, auf einen Haufen. Auf der nächsten Etappe bis Seiad Valley, mit 251 Kilometern eine der längsten auf dem PCT, würde ich viel Proviant mitschleppen müssen.
»Könnt ihr was zu essen gebrauchen, du und Sarah?«, fragte ich John, der bei mir am Tisch saß, als wir vorübergehend allein im Lager waren. »Das hätte ich übrig.« Ich hielt ihm ein Fertiggericht namens Fiesta Noodles hin. In den ersten Tagen auf dem Trail hatte es mir noch ganz gut geschmeckt, aber mittlerweile konnte ich es nicht mehr sehen.
»Nein, danke«, antwortete er.
Ich zog Dubliner von James Joyce aus dem Paket und hielt mir das Buch mit seinem eingerissenen, grünen Umschlag an die Nase. Es roch schön schimmlig nach dem Antiquariat in Minneapolis, in dem ich es Monate zuvor gekauft hatte. Ich schlug es auf und stellte fest, dass es Jahrzehnte vor meiner Geburt gedruckt worden war.
»Was ist das?«, fragte John und griff nach einer Postkarte, die ich tags zuvor im Laden gekauft hatte. Das Foto zeigte die Kettensägenskulptur eines Bigfoot, und quer darüber stand Bigfoot Country. »Glaubst du, die gibt es wirklich?«, fragte er und legte die Karte wieder hin.
»Nein. Aber die Leute, die es tun, behaupten, dass hier die Bigfoot-Hochburg der Welt ist.«
»Die Leute behaupten viel«, erwiderte er.
»Na ja, wenn es irgendwo welche gibt, dann wohl hier«, sagte ich, und wir sahen uns um. Hinter den Bäumen erhoben sich die alten grauen Felsen der Castle Crags, deren zinnenartige Gipfel uns wie eine Kathedrale überragten. Wir würden bald auf dem Trail an ihnen vorbeikommen, wenn wir kilometerweit auf einem Felsband aus Graniten und ultramafischen Gesteinen wanderten, von denen es in meinem Führer hieß, sie seien »magmatischen Ursprungs und intrusiver Natur«, was auch immer das bedeuten mochte. Ich hatte mich nie sonderlich für Geologie interessiert, aber ich brauchte die Bedeutung von ultramafisch nicht zu kennen, um zu merken, dass ich in eine andere Landschaft vordrang. Den Übergang in die Cascade Range hatte ich ähnlich erlebt wie den Übergang in die Sierra Nevada: Beide Male war ich tagelang marschiert, ehe ich wirklich das Gefühl hatte, dort zu sein.
»Nur noch ein Stopp«, sagte John, als könnte er meine Gedanken lesen. »Nur noch Seiad Valley, und dann geht es nach Oregon. Bis zur Grenze sind es nur noch ungefähr dreihundert Kilometer.«
Ich nickte und lächelte. Ich fand, dass die Wörter »nur« und »dreihundert Kilometer« nicht in ein und denselben Satz gehörten. Ich hatte mir nicht gestattet, allzu weit über den nächsten Stopp hinauszudenken.
»Oregon!«, rief er, und die Freude in seiner Stimme hätte mich fast zum Mitlachen verleitet, als wären diese dreihundert Kilometer ein Klacks, aber ich wusste es besser. Auf dem Trail war bisher noch jede Woche für mich zur Bewährungsprobe geworden.
»Oregon«, wiederholte ich und machte dann ein ernstes Gesicht. »Aber zuerst Kalifornien.«
14 –
Ungebändigt
Manchmal kam mir der Pacific Crest Trail wie ein lang gezogener Berg vor, den ich hinaufstieg. Als läge der Columbia River, das Ziel meiner Reise, am höchsten Punkt des Wanderwegs und nicht an seinem tiefsten. Und das
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