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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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ist nicht nur bildlich zu verstehen. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, es gehe ständig nur bergauf. Manchmal brannten meine Muskeln und meine Lungen so vor Anstrengung, dass ich fast geweint hätte. Und erst wenn ich dachte, ich könnte keinen Schritt weiter, flachte der Trail ab und führte bergab.
    Wie herrlich waren diese ersten Minuten, wenn es bergab ging! Immer weiter bergab und bergab, bis auch das so unerträglich anstrengend wurde, dass ich darum betete, es möge wieder bergauf gehen. Bergab gehen, so begriff ich, war, wie wenn man stundenlang am losen Faden eines Pullovers zieht, bis der ganze Pullover aufgedröselt ist. Das Wandern auf dem PCT war der zum Wahnsinn treibende Versuch, diesen Pullover immer wieder aufs Neue zu stricken und aufzudröseln. Als gehe alles Erreichte unweigerlich wieder verloren.
    Als ich Castle Crags um zwei – eine Stunde nach Stacy und Rex und mehreren vor den Paaren – verließ, trug ich Stiefel, die zum Glück eine ganze Nummer größer waren als die letzten. » Ich bin der Bigfoot!«, hatte ich gewitzelt, als ich mich von den beiden Paaren verabschiedete. Ich freute mich, wieder auf dem Trail zu sein, und schwitzte in der sengenden Hitze die letzten Reste meines Katers aus. Den ganzen Nachmittag und auch den ganzen folgenden Tag ging es ununterbrochen bergauf, und es dauerte nicht lange, bis meine Begeisterung über die neuen Stiefel verflogen war und der ernüchternden Erkenntnis wich, dass, was meine Füße anging, alles beim Alten blieb. Auch die neuen Stiefel setzten ihnen zu. Ich wanderte durch eine herrliche Landschaft, was ich mittlerweile als selbstverständlich betrachtete, und mein Körper hatte sich endlich auf die langen Strecken eingestellt, doch meine Fußbeschwerden stürzten mich in tiefste Verzweiflung. Ich dachte daran, wie ich mir unter dem Sternenhimmel von Belden Town etwas gewünscht hatte. Anscheinend hatte es mir tatsächlich Unglück gebracht, dass ich den Wunsch vor Brent laut ausgesprochen hatte. Vielleicht würden meine Füße nie gesund werden.
    An diesem zweiten Tag nach Castle Crags war ich so in der Spirale meiner negativen Gedanken gefangen, dass ich zweimal beinahe auf eine Klapperschlange getreten wäre, die im Abstand von nur wenigen Kilometern zusammengerollt auf dem Pfad lagen. Beide hatten mich durch ihr Rasseln in die Realität zurückgeholt und in letzter Sekunde gewarnt. Danach versuchte ich, alles positiver zu sehen. Ich marschierte weiter und stellte mir das Unvorstellbare vor, wie etwa, dass meine Füße eigentlich gar kein Teil von mir waren oder dass das, was ich spürte, in Wirklichkeit keine Schmerzen waren, sondern einfach nur eine Empfindung .
    Schwitzend, wütend und meiner selbst überdrüssig legte ich gegen Mittag im Schatten eines Baumes eine Rast ein, breitete meine Plane aus und legte mich darauf. Ich hatte in der Nacht zuvor mit Rex und Stacy kampiert und mich für den Abend wieder mit ihnen verabredet – die Paare waren noch irgendwo hinter uns –, aber heute war ich den ganzen Tag allein gewandert, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Ich beobachtete Raubvögel, die hoch über den Felsspitzen kreisten, flaumige weiße Wolken, die vereinzelt über den Himmel zogen, bis ich einschlief, ohne es zu wollen. Eine halbe Stunde später schreckte ich aus einem Traum hoch, aus demselben Traum, den ich schon in der Nacht gehabt hatte. Darin hatte mich ein Bigfoot entführt. Er war dabei recht manierlich zu Werke gegangen, indem er mich an der Hand in den Wald zog, in dem ein ganzes Dorf anderer Bigfoots lebte. Im Traum versetzte mich ihr Anblick in Erstaunen, aber auch in Angst. »Wie habt ihr euch vor den Menschen so lange verstecken können?«, fragte ich meinen Entführer, aber er grunzte nur. Ich sah ihn an, und da bemerkte ich, dass er gar kein Bigfoot war, sondern ein Mann, der eine Maske und ein Pelzkostüm trug. Sein blasses menschliches Fleisch schaute unter dem Rand der Maske hervor, und das erschreckte mich.
    Ich hatte den Traum beiseitegeschoben, als ich am Morgen erwachte, und auf die Postkarte zurückgeführt, die ich in Castle Crags gekauft hatte. Nun aber, da ich ihn zum zweiten Mal geträumt hatte, bekam er irgendwie mehr Gewicht, als wäre er nicht nur ein Traum, sondern ein Omen – wofür, wusste ich nicht. Ich stand auf, schulterte das Monster und ließ den Blick suchend über die zinnenartigen Kämme und die grauen und rostfarbenen hohen Felswände der Crags schweifen, die mich, nur unterbrochen

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