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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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Richtung ich einschlagen sollte. Aber daran war nun nichts mehr zu ändern. Ich zog mein Bob-Marley-Shirt aus und hängte es zum Trocknen an einen Ast, kramte ein anderes T-Shirt aus dem Rucksack und schlüpfte hinein. Seit mir Paco das Shirt mit Bob Marley darauf geschenkt hatte, trug ich zwei und wechselte sie im Lauf des Tages wie die Socken, obwohl ich wusste, dass so etwas ein Luxus war und den Rucksack nur schwerer machte.
    Ich studierte die Karte und ging weiter. Ich folgte einem zerfurchten Holzabfuhrweg und dann noch einem, wobei jedes Mal die Hoffnung aufkeimte, ich hätte auf den richtigen Kurs zurückgefunden. Doch am frühen Abend endete der Weg, auf dem ich war, an einem von Bulldozern aufgeschütteten Haufen aus Erde, Wurzeln und Ästen, der so hoch wie ein Haus war. Ich erklomm ihn, um eine bessere Sicht zu haben, und entdeckte am anderen Ende der Schneise eine weitere Holzabfuhrpiste. Auf dem Weg dorthin verlor ich eine Sandale. Der Riemen, der sie am Fuß halten sollte, hatte sich mitsamt Klebeband vom restlichen Schuh gelöst.
    »Autsch!«, brüllte ich und blickte zu den Bäumen in der Ferne. Sie waren merkwürdig still. Sie kamen mir wie Menschen vor, wie Beschützer, die mir aus diesem Schlamassel heraushelfen würden, obwohl sie nichts weiter taten, als schweigend zuzusehen.
    Ich setzte mich zwischen Unkraut und kniehohen Bäumchen auf den Boden und machte mich daran, meine Schuhe nicht nur zu flicken, sondern ich bastelte mir ein Paar eisengrauer Babyschuhe, indem ich das Klebeband wieder und immer wieder um meine Socken und die skelettartigen Überreste meiner Sandalen wickelte, als wollte ich mir die Füße eingipsen. Dabei achtete ich darauf, dass die Gipsverbände so fest saßen, dass sie beim Wandern nicht abgingen, und trotzdem so locker, dass ich sie abends abnehmen konnte, ohne sie zu ruinieren. Sie mussten bis Castle Crags halten.
    Und mittlerweile hatte ich keine Ahnung mehr, wie weit das noch war oder wie ich dorthin kam.
    In meinen Klebebandschuhen ging ich weiter über die Schneise bis zu dem Weg und sah mich um. Ich war mir nicht sicher, welche Richtung ich einschlagen sollte. Nur dort, wo Wege oder Kahlschläge waren, konnte ich überhaupt etwas sehen. Der Wald selbst war ein Dickicht aus Tannen und abgefallenen Ästen, und der Tag hatte mich gelehrt, dass die Holzabfuhrwege ein undurchschaubares Labyrinth bildeten. Sie führten nach Westen und dann nach Nordosten und bogen später für eine gewisse Strecke nach Süden ab. Und was die Sache noch komplizierter machte: Der PCT-Abschnitt zwischen den Burney Falls und Castle Crags führte nicht nach Norden, sondern in einem weiten Bogen nach Westen. Von dem Gedanken, dem Verlauf des Trails zu folgen, musste ich mich also verabschieden. Mein Ziel konnte jetzt nur sein, aus diesem Labyrinth herauszufinden. Ich wusste, dass ich irgendwann auf den Highway 89 stoßen musste, wenn ich nach Norden ging. Ich folgte also der Straße, bis es fast dunkel war, dann suchte ich mir im angrenzenden Wald einen leidlich ebenen Lagerplatz und baute das Zelt auf.
    Ich hatte mich verirrt, aber ich hatte keine Angst, sagte ich mir, während ich mir etwas zu essen machte. Ich hatte reichlich Proviant und Wasser. Der Inhalt meines Rucksacks konnte mich eine Woche oder länger am Leben halten. Wenn ich weiterging, würde ich irgendwann in die Zivilisation zurückkehren. Doch als ich in mein Zelt kroch, zitterte ich vor Dankbarkeit für die vertrauten grünen Nylonwände, die meine Zuflucht und mein Zuhause geworden waren. Ich zog mir vorsichtig die Klebebandstiefel von den Füßen und stellte sie in die Ecke. Zum hundertsten Mal an diesem Tag konsultierte ich frustriert und verunsichert die Karten im Wanderführer. Schließlich gab ich es auf und verschlang hundert Seiten von Lolita und tauchte so tief in die schreckliche und amüsante Welt des Romans ein, dass ich meine eigene vergaß.
    Am Morgen bemerkte ich, dass ich mein Bob-Marley-Shirt nicht mehr hatte. Ich hatte es an dem Ast vergessen, an dem ich es am Vortag zum Trocknen aufgehängt hatte. Dass ich meine Stiefel verloren hatte, war schlimm. Aber der Verlust des Bob-Marley-Shirts war schlimmer. Das T-Shirt war nicht nur irgendein altes T-Shirt. Es war, jedenfalls laut Paco, ein heiliges T-Shirt, und das bedeutete, dass ich mit den Geistern der Tiere, der Erde und des Himmels wanderte, wenn ich es trug. Ich wusste nicht, ob ich das glaubte, aber das Shirt war zum Sinnbild für etwas geworden, was

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