Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
ich nicht genau benennen konnte.
Ich verstärkte meine improvisierten Schuhe mit einer weiteren Schicht Klebeband und marschierte bei schwülem Wetter den ganzen Tag. Am Abend zuvor hatte ich einen Vorsatz gefasst: Ich wollte diesem Weg folgen, wohin er mich auch führte. Ich ignorierte alle anderen, die ihn kreuzten, ganz gleich wie interessant oder viel versprechend sie aussahen. Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass ich andernfalls nur endlos in die Irre gehen würde. Am späten Nachmittag spürte ich, dass der Weg irgendwohin führte. Er wurde breiter, die tiefen Furchen verschwanden, und weiter vorn öffnete sich der Wald. Schließlich, hinter einer Biegung, erblickte ich einen führerlosen Traktor, und hinter dem Traktor eine asphaltierte, zweispurige Straße. Ich überquerte sie, bog nach links ab und ging am Randstreifen entlang. Das musste der Highway 89 sein. Ich zückte meine Karten, ermittelte eine Route, auf der ich zum PCT zurücktrampen konnte, und versuchte dann, eine Mitfahrgelegenheit zu bekommen, verlegen in meinen eisengrauen Stiefeln aus Klebeband. Immer wieder fuhren Autos in Zweier- und Dreierpulks vorbei, mit größeren Pausen dazwischen. Eine halbe Stunde lang hielt ich erfolglos den Daumen raus und wurde immer nervöser. Dann hielt endlich ein Pick-up, in dem ein Mann saß. Ich ging zur Beifahrertür und öffnete sie.
»Den Rucksack können Sie hinten raufwerfen«, sagte der Fahrer, ein Bulle von einem Mann, den ich auf Ende vierzig schätzte.
»Ist das der Highway 89?«, fragte ich.
Er sah mich verdutzt an. »Wissen Sie nicht mal, auf welcher Straße Sie sind?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Was um alles in der Welt haben Sie da an den Füßen?«, fragte er.
Ungefähr eine halbe Stunde später setzte er mich an einer Stelle im Wald ab, wo der PCT eine Schotterstraße kreuzte, nicht unähnlich der, der ich am Vortag gefolgt war, als ich nicht mehr wusste, wo ich war. Am nächsten Tag schlug ich für meine Verhältnisse ein Rekordtempo an, getrieben von dem Wunsch, bis zum Abend Castle Crags zu erreichen. Laut meinem Führer würde ich, wie gewöhnlich, nicht direkt in der Stadt ankommen. Der Trail führte in einen State Park mit Gemischtwarenladen und Poststelle, aber das genügte mir vollauf. Auf der Poststelle würden mich meine Stiefel und mein Versorgungspaket erwarten. Zu dem Gemischtwarenladen gehörte ein kleines Restaurant, in dem ich mir wenigstens ein paar kulinarische Träume erfüllen konnte, wenn ich die zwanzig Dollar aus meinem Paket geholt hatte. Und der State Park bot einen Gratiszeltplatz für PCT-Wanderer, auf dem ich auch warm duschen konnte.
Als ich mich gegen drei nach Castle Crags schleppte, war ich fast barfuß, denn meine Babyschuhe lösten sich in ihre Bestandteile auf. Schmutzverkrustete Klebebandstreifen hinter mir herschleifend, humpelte ich in die Poststelle und fragte nach meiner Post.
»Für mich müssten zwei Pakete da sein«, fügte ich hinzu, da ich es kaum erwarten konnte, das Paket von REI in Händen zu halten. Während ich darauf wartete, dass die Angestellte aus dem Nebenraum zurückkehrte, schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich neben den Stiefeln und dem Versorgungspaket möglicherweise noch etwas anderes bekam: Briefe. Ich hatte nämlich alle Haltepunkte, die ich ausgelassen hatte, benachrichtigt, etwaige Post für mich hierher weiterzuleiten.
»Hier bitte«, sagte die Frau und ließ mein Versorgungspaket schwer auf die Theke plumpsen.
»Aber, da müsste noch … Ist nichts von REI für mich da? Eigentlich …«
»Eins nach dem anderen«, rief sie, als sie schon wieder im Nebenraum verschwand.
Als ich wenig später die Poststelle verließ, wäre ich vor Freude und Erleichterung beinahe in lauten Jubel ausgebrochen. Neben dem makellosen Karton mit meinen Stiefeln – meinen Stiefeln! – hielt ich neun Briefe in der Hand, adressiert an Haltepunkte an der Strecke, die ich übersprungen hatte, und in Handschriften, die ich kannte. Ich setzte mich auf den Beton neben dem kleinen Gebäude und sah rasch die Briefe durch, noch zu überwältigt, um einen zu öffnen. Einer war von Paul. Einer von Joe. Ein anderer von Karen. Die übrigen von Freunden im ganzen Land. Ich legte sie beiseite und schlitzte mit meinem Messer den Karton von REI auf. Darin lagen, sorgsam in Papier eingeschlagen, meine braunen Lederstiefel.
Die gleichen Stiefel, die über die Bergkante geflogen waren, nur neu und eine Nummer größer.
»Cheryl!«, rief eine
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