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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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nicht weit gekommen, da sah ich den Stirnbandträger vom Toad Lake. Er saß an derselben Stelle wie vorgestern auf dem Gehweg, vor sich die Kaffeedose und das kleine Pappschild. »Ich ziehe weiter«, sagte ich und blieb vor ihm stehen.
    Er schaute zu mir auf und nickte. Anscheinend erinnerte er sich immer noch nicht – weder an unsereBegegnung am Toad Lake noch an die vor zwei Tagen.
    »Wir haben uns getroffen, als ihr nach dem Rainbow Gathering gesucht habt«, sagte ich. »Ich war da oben mit einer Frau namens Stacy. Wir haben uns unterhalten.«
    Er nickte abermals und schüttelte seine Dose.
    »Ich habe hier ein paar Lebensmittel, die ich nicht brauche, falls du sie willst«, sagte ich und stellte die Tüte neben ihn.
    »Danke, Baby«, sagte er, als ich weiterging.
    Ich blieb noch einmal stehen und drehte mich um.
    »Hey«, rief ich. »Hey!«, schrie ich, bis er hersah.
    »Nenn mich nicht Baby.«
    Er faltete die Hände wie zum Gebet und beugte den Kopf.

16 –
Mazama
    Der Crater Lake war früher ein Berg. Er hieß Mount Mazama und dürfte so ähnlich ausgesehen haben wie die schlafenden Vulkane, die ich in Oregon überqueren würde, der Mount McLoughlin, die Three Sisters, der Mount Washington, der Three Fingered Jack, der Mount Jefferson und der Mount Hood. Nur war er mit einer geschätzten Höhe von bis zu 3700 Metern größer gewesen als alle anderen. Vor rund 7700 Jahren flog der Mount Mazama bei einem verheerenden Vulkanausbruch, der zweiundvierzigmal stärker war als die Eruption, die 1980 den Mount St. Helens im Bundesstaat Washington enthauptete, in die Luft. Es war der stärkste Ausbruch in der Cascade Range in den letzten eine Million Jahren. Nach der Zerstörung des Mazama bedeckten Asche und Bimsstein ein Gebiet von 1,3 Millionen Quadratkilometer – fast ganz Oregon und Washington bis hinauf ins kanadische Alberta. Nach einer Legende der Klamath-Indianer, deren Vorfahren Zeugen der Eruption geworden waren, führte ein erbitterter Kampf zwischen Llao, dem Geist der Unterwelt, und Skell, dem Geist des Himmels, zum Einsturz des Berges. Skell trieb Llao in die Unterwelt zurück, und vom Mount Mazama blieb nur ein leerer, kesselförmiger Krater. Eine sogenannte Caldera, eine Art umgestülpter Berg. Ein Berg, dem das Herz herausgerissen worden ist. Im Verlauf von Jahrhunderten füllte sich die Caldera langsam mit Regen- und Schneeschmelzwasser, bis sie zu dem See wurde, den man heute sieht. An seiner tiefsten Stelle ist er fast 600 Meter tief. Damit ist er der tiefste See der Vereinigten Staaten und einer der tiefsten der Welt.
    Ich kannte mich mit Seen ein wenig aus, da ich aus Minnesota stammte, doch als ich in Ashland losmarschierte, wusste ich nicht so recht, was mich am Crater Lake erwartete. Wahrscheinlich, so dachte ich mir, sah er so aus wie der Lake Superior, jener See, in dessen Nähe meine Mutter gestorben war und dessen Blau sich bis zum Horizont erstreckt hatte. In meinem Führer stand nur, dass mich auf dem Rand des Kraters, der den See um 300 Meter überragte, ein »unglaublicher Ausblick« erwarte.
    Ich hatte jetzt einen neuen Wanderführer, eine neue Bibel: The Pacific Crest Trail, Volume II: Oregon and Washington. Allerdings hatte ich im Bioladen in Ashland die letzten hundertdreißig Seiten des Buchs herausgerissen, da ich den Teil über Washington nicht brauchte. Am ersten Abend nach meinem Abschied aus Ashland blätterte ich vor dem Einschlafen darin, las hier und dort einen Abschnitt, so wie ich es an meinem ersten Abend auf dem PCT in der Wüste mit dem Führer für Kalifornien getan hatte.
    In den ersten fünf Tagen nach Ashland erhaschte ich unterwegs mehrmals einen Blick auf den Mount Shasta im Süden, aber die meiste Zeit wanderte ich durch hohen Wald, der die Sicht verstellte. Unter Rucksackwanderern wurde der PCT in Oregon oft als »grüner Tunnel« bezeichnet, da er weitaus weniger Panoramen bot als der kalifornische Pfad. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, von oben auf alles hinabzuschauen, und empfand es als irritierend, das Gelände nicht mehr überblicken zu können. Kalifornien hatte meinen Blick verändert, aber in Oregon wandelte er sich erneut, richtete sich auf das Näherliegende. Ich wanderte unter großen, stattlichen Douglasien, vorbei an dicht umwachsenen Seen, durch Wiesen und krautige Disteln, unter denen der Trail zuweilen vollständig verschwand. Ich gelangte in den Rogue River National Forest und wanderte unter uralten Bäumen, ehe ich wieder auf Kahlschläge

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