Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Interesse an Jonathan schwand, sondern auch weil wir volle drei Stunden gefahren waren. Es war ein komisches Gefühl, so weit vom PCT weg zu sein, als hätte ich ihn irgendwie verraten.
Der herrliche Strand brachte dieses Gefühl zum Verstummen. Als ich mit Jonathan an der Brandung entlangspazierte, fiel mir auf, dass ich schon einmal hier gewesen war. Mit Paul. Auf unserer langen Reise nach unserer Zeit in New York – jener Reise, bei der wir den Grand Canyon, Las Vegas, Big Sur und San Francisco besucht hatten und schließlich in Portland gelandet waren – hatten wir an diesem Strand angehalten und gecampt. Wir hatten ein Feuer gemacht, gekocht und an einem Picknicktisch Karten gespielt, dann waren wir hinten in meinen Pick-up gekrochen und hatten auf der dort liegenden Matratze miteinander geschlafen. Ich spürte die Erinnerung daran wie einen Mantel auf meiner Haut. Wer war ich gewesen, als ich mit Paul hier war, und was hatte ich gedacht, was geschehen würde? Was war tatsächlich geschehen, und wer war ich jetzt, und wie hatte sich alles verändert?
Jonathan fragte mich nicht, woran ich dachte, obwohl ich still geworden war. Wir gingen schweigend nebeneinanderher, kamen nur selten an Leuten vorbei, obwohl Sonntagnachmittag war, gingen weiter und immer weiter, bis wir ganz allein waren.
»Wie wär’s hier?«, fragte Jonathan, als wir an eine kleine, von dunklen Felsen umsäumte Bucht kamen. Ich sah zu, wie er eine Decke ausbreitete, die Tüte mit unserer Reiseverpflegung, die er bei Safeway gekauft hatte, abstellte und sich hinsetzte.
»Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern noch ein Stück gehen«, sagte ich und ließ meine Sandalen neben der Decke stehen. Es tat gut, allein zu sein, den Wind in den Haaren zu spüren, den wohltuenden Sand unter den Füßen. Im Gehen sammelte ich schöne Steine, obwohl ich sie gar nicht würde mitnehmen können. Als ich mich so weit von Jonathan entfernt hatte, dass ich ihn nicht mehr sehen konnte, bückte ich mich und schrieb Pauls Namen in den Sand.
Ich hatte das schon so viele Male getan. Jahrelang hatte ich es getan – seit ich mich mit neunzehn in Paul verliebt hatte, jedes Mal, wenn ich einen Strand besuchte, ob wir nun zusammen waren oder nicht. Doch als ich jetzt seinen Namen schrieb, wusste ich, dass es das letzte Mal sein würde. Ich wollte seinetwegen nicht mehr leiden, mich nicht mehr fragen, ob es ein Fehler gewesen war, ihn zu verlassen, mich nicht mehr mit all den Dingen quälen, die ich ihm angetan hatte. Sollte ich mir nicht endlich verzeihen?, fragte ich mich. Sollte ich mir nicht endlich verzeihen, obwohl ich etwas getan hatte, was ich nicht hätte tun sollen? Was, wenn ich eine Lügnerin und Betrügerin war und es für das, was ich getan hatte, keine andere Entschuldigung gab als die, dass ich es hatte tun wollen und tun müssen? Was, wenn ich es aufrichtig bedauerte, ich aber, selbst wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, nicht anders handeln würde als damals? Was, wenn ich tatsächlich mit jedem dieser Männer hatte ins Bett gehen wollen? Was, wenn mich das Heroin etwas gelehrt hatte? Was, wenn Ja die richtige Antwort war und nicht Nein ? Was, wenn mich auch das, was mich zu all diesen Dingen getrieben hatte, die ich in den Augen der anderen nicht hätte tun dürfen, hierhergeführt hatte? Was, wenn ich niemals erlöst wurde? Was, wenn ich es schon war?
»Willst du die?«, fragte ich Jonathan, als ich zu ihm zurückkehrte, und hielt ihm die Steine hin, die ich gesammelt hatte.
Er lächelte, schüttelte den Kopf und sah zu, wie ich sie wieder in den Sand fallen ließ.
Ich setzte mich neben ihn auf die Decke und zog die Einkäufe aus der Tüte – Bagels und Käse, einen kleinen Plastikbären mit Honig, Bananen und Orangen, die er für uns schälte. Ich aß, bis er einen Finger in den Honig tauchte, meine Lippen damit einstrich, den Honig wegküsste und mich am Ende ganz sanft biss.
Und damit begann eine Honig-Strandfantasie. Er, ich und der Honig, in den sich unvermeidlich auch Sand mischte. Auf meinen Mund, auf seinen Mund und auf der empfindlichen Seite meines Arms hinauf bis zu den Brüsten. Über seine breiten nackten Schultern und hinunter zu seinen Brustwarzen und seinem Nabel und am oberen Rand seiner Shorts entlang, bis ich es schließlich nicht mehr aushielt.
»Wow«, stieß ich hervor, denn das war anscheinend unser Wort. Es stand für alles, was ich nicht aussprach, und es passte zu einem Kerl, der ein mäßiger
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