Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
stieß wie die, die ich Wochen zuvor gesehen hatte, große leere Flächen mit Stümpfen und Baumwurzeln, die beim Abholzen des dichten Waldes zutage getreten waren. Eines Nachmittags verlief ich mich zwischen den Überresten und irrte stundenlang umher, bis ich auf eine asphaltierte Straße stieß und auf den PCT zurückfand.
Es war sonnig und klar, aber kühl, und es wurde mit jedem Tag kühler, als ich in die Sky Lakes Wilderness vorstieß, wo der Pfad konstant in über 1800 Metern Höhe verlief. Von den Kammlinien, auf denen ich zwischen Felsblöcken und Vulkangestein wanderte, hatte ich wieder einen weiten Ausblick über das Land, erspähte gelegentlich weit unter mir einen See. Trotz Sonnenscheins fühlte ich mich wie an einem Morgen Anfang Oktober und nicht wie an einem Nachmittag Mitte August. Ich musste in Bewegung bleiben, um mich warm zu halten. Wenn ich länger als fünf Minuten stehen blieb, wurde das schweißnasse T-Shirt am Rücken eiskalt. Seit Ashland war ich niemandem begegnet, aber nun traf ich hin und wieder Tagesausflügler und Rucksackwanderer, die auf einem der vielen Wanderwege, die den PCT kreuzten und entweder zu einem Gipfel weiter oben oder zu einem See weiter unten führten, heraufgeklettert waren. Meistens war ich allein, was nicht ungewöhnlich war, aber die Kälte und der frische Wind, der an den unverwüstlichen Bäumen rüttelte, ließen den Trail noch verlassener wirken. Es kam mir sogar noch kälter vor als auf den verschneiten Höhen bei Sierra City, obwohl ich nur hier und da kleinere Schneereste sah. Das lag daran, dass der Sommer zum damaligen Zeitpunkt gerade erst Einzug in den Bergen gehalten hatte, während er sich jetzt, nur sechs Wochen später, bereits wieder aus ihnen zurückzog und langsam dem Herbst Platz machte.
Eines Abends, als ich anhielt, um mein Lager aufzuschlagen, war es so kalt, dass ich eilends aus meinen verschwitzten Sachen schlüpfte, jedes Kleidungsstück anzog, das ich noch besaß, mir rasch etwas kochte und gleich nach dem Essen in den Schlafsack kroch. Ich war so durchgefroren, dass ich nicht einmal lesen wollte. Die ganze Nacht lag ich zusammengerollt wie ein Embryo da und tat kaum ein Auge zu, obwohl ich Mütze und Handschuhe anhatte. Als die Sonne endlich aufging, zeigte das Thermometer drei Grad unter null, und auf dem Zelt lag eine dünne Schneeschicht. Das Wasser in meinen Trinkflaschen war gefroren, obwohl sie neben mir im Zelt gelegen hatten. Statt meines gewohnten Müslis mit angerührtem Sojamilchpulver aß ich einen Eiweißriegel zum Frühstück, und als ich, ohne einen Schluck Wasser getrunken zu haben, das Lager abbrach, musste ich wieder an meine Mutter denken. Seit Tagen, seit ich in Ashland losgewandert war, spürte ich ihre Nähe, merkte, wie sie in meinem Hinterkopf herumgeisterte, und jetzt, an dem Tag, an dem es geschneit hatte, war sie da.
Es war der 18. August. Ihr Geburtstag. Sie wäre an diesem Tag fünfzig geworden, wenn sie noch gelebt hätte.
Sie lebt nicht mehr. Sie wird nicht fünfzig. Sie wird nie fünfzig werden, sagte ich mir, als ich in der kalten Augustsonne weiterwanderte. Werde fünfzig, Mom. Verdammt noch mal, werde fünfzig, dachte ich mit zunehmender Wut. Ich konnte nicht fassen, wie wütend ich auf meine Mutter wurde, weil sie an ihrem fünfzigsten Geburtstag nicht mehr am Leben war.
Ihre vorausgegangenen Geburtstage hatten keine solche Wut in mir entfacht. In den Jahren davor war ich nur traurig gewesen. Am ersten Geburtstag ohne sie – dem Tag, an dem sie sechsundvierzig geworden wäre – verstreute ich mit Eddie, Karen, Leif und Paul ihre Asche auf dem kleinen, in Steine eingefassten Blumenbeet, das ich für sie auf einer Lichtung auf unserem Stück Land angelegt hatte. An den drei folgenden Geburtstagen hatte ich nur still dagesessen, geweint und mir sehr aufmerksam das gesamte Album Colors of the Day von Judy Collins angehört, von dem mir jeder Ton wie ein Stück von mir vorkam. Ich konnte es mir nur einmal im Jahr anhören, da es mich zu sehr an meine Mutter erinnerte, die es häufig gespielt hatte, als ich noch ein Kind war. Die Musik gab mir das Gefühl, meine Mutter wäre bei mir, stünde im Zimmer – nur war es nicht so und würde nie wieder so sein.
Jetzt, auf dem PCT, durfte ich mir nicht gestatten, auch nur an eine einzige Textzeile zu denken. Ich löschte jedes einzelne Lied aus dem Hitradio in meinem Kopf, drückte in einem verzweifelten Kampf eine imaginäre Rücklauftaste und zwang
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