Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
in meinem Zelt mitten auf dem Trail, dessen etwa fünfzig Zentimeter breite, flache Mulde die einzige ebene Stelle war, die ich in dunkler Nacht hatte finden können. Der Regen hatte um Mitternacht eingesetzt und bis zum Morgen nicht mehr aufgehört, und er hielt mit Unterbrechungen auch den ganzen Vormittag an. Beim Wandern dachte ich an den Zwischenfall mit den beiden Männern. Ich dachte darüber nach, was geschehen war. Was beinahe geschehen wäre oder vielleicht auch nie tatsächlich geschehen wäre. Ich spielte es in meinem Kopf durch, fühlte mich elend und zittrig, aber um Mittag war ich drüber weg und wieder auf dem PCT – der Umweg, den ich versehentlich genommen hatte, mündete wieder in den Trail.
Wasser fiel vom Himmel, tropfte von den Ästen, strömte durch die Rinne des ausgetretenen Pfads. Ich wanderte unter riesigen Bäumen, das Nadeldach weit über mir, und wurde klatschnass von den Sträuchern und niedrigen Pflanzen, die bis dicht an den Trail heranwuchsen. So trübselig das Wetter auch sein mochte, der Wald war zauberhaft – erhaben in seiner grünen Pracht, licht und dunkel zugleich, von so verschwenderischer Üppigkeit, dass ich das Gefühl hatte, durch ein Märchenland zu wandern und nicht durch die wirkliche Welt.
Mit Unterbrechungen regnete es den ganzen Tag und auch den ganzen nächsten. Und es regnete auch noch am frühen Abend, als ich den ungefähr einen Quadratkilometer großen Olallie Lake erreichte. Zutiefst erleichtert ging ich an der geschlossenen Ranger-Station vorbei, stapfte durch Schlamm und nasses Gras zwischen Picknicktischen hindurch zu der kleinen Ansammlung von dunklen Holzhäusern, die das Olallie Lake Resort bildeten. Bevor ich durch Oregon wanderte, hatte ich mir unter einem »Resort« etwas ganz anderes vorgestellt. Kein Mensch war zu sehen. Die zehn primitiven Hütten, die verstreut am Seeufer standen, machten einen unbewohnten Eindruck, und der kleine Laden zwischen den Hütten hatte bereits geschlossen.
Es begann wieder zu regnen, und ich stellte mich in der Nähe des Ladens unter eine Küstenkiefer, zog mir die Kapuze meiner Regenhaut über den Kopf und blickte auf den See. Ich wusste, dass im Süden der mächtige Gipfel des Mount Jefferson und im Norden die gedrungene Masse des Olallie Butte in den Himmel emporragten, aber wegen der hereinbrechenden Dunkelheit und des Nebels konnte ich beide nicht sehen. Ohne das Bergpanorama im Hintergrund erinnerte mich der Anblick des großen Sees und der Kiefern an den Norden Minnesotas. Auch die Luft kam mir vor wie in Minnesota. Es war eine Woche nach dem Labor Day, der immer am ersten Montag im September gefeiert wird. Der Herbst war noch nicht da, aber nicht mehr fern. Alles wirkte verwaist und trist. Ich griff unter meine Regenhaut, zog die Seiten meines Wanderführers hervor und las nach, wo ich hier kampieren konnte – hinter der Ranger-Station gab es einen Platz mit Blick auf den Head Lake, den Nachbarsee des Olallie.
Im Regen baute ich dort mein Zelt auf und kochte mir mein Abendessen, dann kroch ich ins Zelt und schlüpfte in meinen feuchten Kleidern in meinen feuchten Schlafsack. Die Batterien meiner Stirnlampe waren leer, deshalb konnte ich nicht lesen. Stattdessen lag ich da und lauschte dem Trommeln der Regentropfen auf das gespannte Nylon über meinem Kopf.
In dem Versorgungspaket, das ich morgen bekam, waren frische Batterien. Außerdem Chocolate Kisses von Hershey, die ich mir über die nächste Woche verteilt gönnen wollte. Und der letzte Schwung Trockenkost und Tüten mit schal gewordenen Nüssen und Körnern. Der Gedanke an diese Sachen war mir eine Qual und zugleich ein Trost. Ich rollte mich zusammen, damit der Schlafsack nicht die Zeltwände berührte, falls diese undicht wurden, aber ich konnte nicht einschlafen. Trotz des trostlosen Wetters spürte ich eine freudige Erregung in mir, die daher rührte, dass ich in ungefähr einer Woche meine Wanderung auf dem PCT beendet haben würde. Ich würde in Portland sein und wieder ein normales Leben führen. Ich würde abends als Kellnerin arbeiten und tagsüber schreiben. Seit ich mich mit dem Gedanken angefreundet hatte, in Portland zu leben, brachte ich Stunden damit zu, mir auszumalen, wie es wohl war, wieder in der Welt zu sein, in der ich essen und Musik hören, Wein und Kaffee trinken konnte.
Natürlich konnte ich dort auch Heroin haben, dachte ich mir. Tatsache war aber, dass ich es nicht wollte. Vielleicht hatte ich es nie wirklich gewollt.
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