Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
obwohl »allein«es nicht ganz traf. Was ich in der Liebe brauchte, dafür gab es anscheinend keine Erklärung. Das Ende meiner Ehe war ein tiefer Fall, der mit einem Brief begann, der eine Woche nach dem Tod meiner Mutter eintraf, obwohl der eigentliche Beginn weiter zurücklag.
Der Brief war nicht für mich. Er war für Paul. Meine Trauer war noch frisch, und ich lief aufgeregt in unser Schlafzimmer und gab ihm das Schreiben, da fiel mein Blick auf den Absender. Es war von der New School in New York. In einem anderen Leben – vor nur drei Monaten, kurz bevor ich von der Krebserkrankung meiner Mutter erfuhr – hatte ich ihm bei der Bewerbung für ein Promotionsstipendium in politischer Philosophie geholfen. Mitte Januar war mir der Gedanke, in New York zu leben, noch wie die aufregendste Sache der Welt vorgekommen. Aber jetzt, Ende März, als Paul den Brief aufriss und rief, dass er angenommen sei, als ich ihn umarmte und die gute Nachricht scheinbar rückhaltlos mit ihm feierte, fühlte ich mich gespalten. Zweigeteilt in die Frau, die ich war, bevor meine Mutter starb, und die, die ich jetzt war. Mein altes Leben war wie ein blauer Fleck an der Oberfläche meines Ichs.Meinwahres Ich war darunter, pulsierte unter all dem, wovon ich vorher geträumt hatte. Wie ich im Juni meinen Bachelor machen und ein paar Monate später mit Paul weggehen würde. Wie wir uns eine Wohnung mieten würden, in einem Viertel wie East Village oder Park Slope, die ich nur vom Hörensagen kannte. Wie ich flippige Ponchos, süße Strickmützen und coole Stiefel tragen und ganz nach dem romantischen Klischee vom armen Künstler Schriftstellerin werden würde wie viele meiner literarischen Vorbilder.
Das alles war jetzt nicht mehr möglich, ganz gleich was in dem Brief stand. Meine Mutter war tot. Meine Mutter war tot. Meine Mutter war tot. Mit ihrem letzten Atemzug waren alle meine Träume verpufft.
Ich konnte nicht aus Minnesota fort. Meine Familie brauchte mich. Wer sollte Leif helfen, vollends erwachsen zu werden? Wer sollte Eddie in seiner Einsamkeit beistehen? Wer sollte das Thanksgiving-Dinner kochen und die Familientradition fortführen? Jemand musste die Familie zusammenhalten. Und dieser Jemand musste ich sein. Das zumindest war ich meiner Mutter schuldig.
»Du solltest ohne mich gehen«, sagte ich zu Paul, als er den Brief in der Hand hielt. Und bei unseren Gesprächen in den folgenden Wochen wiederholte ich es immer wieder, denn ich wurde mir meiner Sache mit jedem Tag sicherer. Einerseits graute mir bei dem Gedanken, dass Paul mich verließ, andererseits hoffte ich verzweifelt, dass er es tat. Wenn er ging, würde die Tür unserer Ehe zufallen, ohne dass ich ihr einen Tritt geben musste. Ich würde frei sein und mir nichtsvorwerfen müssen. Ich liebte ihn, aber bei unserer Heirat war ich erst neunzehn und zu impulsiv gewesen und nicht im Entferntesten bereit, mich an einen anderen Menschen zu binden, ganz gleich wie lieb er war. Schon kurz nach unserer Heirat hatte ich mich zu anderen Männern hingezogen gefühlt, diesen Gefühlen aber nicht nachgegeben. Das gelang mir nun nicht mehr. In meiner Trauer konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Mir war so viel versagt geblieben, dachte ich mir. Warum sollte ich mir selbst etwas versagen?
Meine Mutter war gerade mal eine Woche tot, da küsste ich einen anderen Mann. Und eine Woche darauf wieder einen anderen. Ich knutschte nur mit ihnen und den anderen, die folgten. Ich schwor mir, die sexuelle Grenze, die mir etwas bedeutete, nicht zu überschreiten. Trotzdem wusste ich, dass es falsch war, Paul zu belügen und zu betrügen. Ich kam mir vor wie in einer Falle, denn ich konnte Paul weder verlassen, noch konnte ich ihm treu bleiben, und so wartete ich darauf, dass er mich verließ und allein nach New York ging, was er natürlich nicht tat.
Er verschob seinen Wechsel um ein Jahr, und wir blieben in Minnesota, damit ich meiner Familie nahe sein konnte, obwohl ich in dem Jahr nach dem Tod meiner Mutter durch meine Nähe wenig bewirkte. Wie sich zeigte, war ich nicht fähig, die Familie zusammenzuhalten. Ich konnte meine Mutter nicht ersetzen. Erst kurz nach ihrem Tod hatte ich erkannt, dass sie das Gravitationszentrum der Familie gewesen war, das uns alle auf unserer Umlaufbahn gehalten hatte. Ohne sie wurde Eddie langsam ein Fremder. Leif, Karen und ich drifteten jeder in sein eigenes Leben ab. Sosehr ich auch dagegen ankämpfte, irgendwann musste auch ich eingestehen: Ohne meine
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