Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Mutter waren wir nicht mehr, was wir gewesen waren. Wir waren vier Menschen, die in ihrer Trauer zwischen den Trümmern ihres Lebens dahintrieben, jeder für sich und nur durch einen dünnen Faden miteinander verbunden. Das Thanksgiving-Dinner kochte ich nie. Als acht Monate nach dem Tod meiner Mutter Thanksgiving anstand, sprach ich von meiner Familie nur noch in der Vergangenheitsform.
Deswegen war ich froh, als Paul und ich, ein Jahr später als ursprünglich geplant, schließlich nach New York zogen. Dort konnte ich neu beginnen. Ich würde aufhören, mit Männern herumzumachen. Ich würde aufhören, so heftig zu trauern. Ich würde aufhören, mit der Familie zu hadern, die ich einmal gehabt hatte. Ich würde eine New Yorker Schriftstellerin werden. Ich würde herumlaufen und coole Stiefel und eine süße Strickmütze tragen.
Es klappte nicht. Ich war, was ich war: dieselbe Frau, die unter dem blauen Fleck ihres alten Lebens pulsierte, nur dass ich jetzt woanders war.
Tagsüber schrieb ich Kurzgeschichten. Abends kellnerte ich und machte mit einem der beiden Männer herum, die ich gleichzeitig hatte, ohne aber die Grenze zu überschreiten. Wir waren erst einen Monat in New York, da brach Paul das Studium ab, weil er lieber Gitarre spielen wollte. Sechs Monate später verließen wir New York endgültig und kehrten für kurze Zeit nach Minnesota zurück, ehe wir zu einer monatelangen Reise durch den gesamten Westen aufbrachen, auf der wir unter anderem den Grand Canyon, das Death Valley, Big Sur und San Francisco besuchten. Im späten Frühjahr landeten wir in Portland und nahmen Jobs in Restaurants an. Anfangs wohnten wir bei meiner Freundin Lisa, die eine kleine Wohnung hatte, später auf einer Farm sechzehn Kilometer außerhalb der Stadt, wo wir den Sommer über mietfrei wohnen durften und als Gegenleistung eine Ziege, eine Katze und einen Schwarm exotischer Wildhühner versorgen mussten. Wir holten den Futon aus unserem Pick-up und schliefen im Wohnzimmer unter einem hohen, breiten Fenster, das auf einen Garten mit Haselnusssträuchern hinausging. Wir unternahmen lange Spaziergänge, pflückten Beeren und schliefen miteinander. Ich kann es doch, dachte ich. Ich kann Pauls Frau sein.
Aber wieder irrte ich mich. Ich konnte nur sein, was ich offenbar sein musste. Nur jetzt noch mehr. Ich erinnerte mich nicht einmal mehr an die Frau, die ich gewesen war, bevor mein Leben in zwei Teile zerbrach. Ein paar Monate nach dem zweiten Todestag meiner Mutter hatte ich keine Skrupel mehr, die Grenze zu überschreiten. Irgendwann bekam Paul in Minneapolis einen Job angeboten, brach die Hühnerwache in dem kleinen Farmhaus am Stadtrand von Portland vorzeitig ab und kehrte nach Minnesota zurück. Ich blieb in Oregon und bumste mit dem Exfreund der Frau, der die exotischen Hühner gehörten. Ich bumste mit einem Koch aus dem Restaurant, ich dem ich bediente. Ich bumste mit einem Heilmasseur, von dem ich ein Stück Bananencremetorte und eine Gratismassage bekam. Mit allen dreien innerhalb von fünf Tagen.
Ich stellte mir vor, dass sich so Leute fühlen mussten, die sich absichtlich Schnittverletzungen beibrachten. Nicht angenehm, aber anständig. Nicht gut, aber frei von Schuldgefühlen. Ich versuchte, gesund zu werden. Versuchte, das Schlechte aus mir auszutreiben, damit ich wieder gut werden konnte. Mich von mir selbst zu kurieren. Als ich am Ende des Sommers nach Minneapolis zurückkehrte, um wieder mit Paul zusammenzuleben, hielt ich mich für kuriert. Ich dachte, ich sei anders, besser, geheilt. Und eine Zeitlang war ich es auch, hielt Paul den ganzen Herbst hindurch bis ins neue Jahr hinein die Treue. Dann hatte ich wieder eine Affäre. Ich wusste, dass das Ende der Fahnenstange erreicht war. Ich konnte mich selbst nicht mehr ertragen. Ich musste Paul endlich die Worte sagen, die mein Leben auseinanderreißen würden. Nicht, dass ich ihn nicht mehr liebte. Sondern dass ich allein sein musste, auch wenn ich nicht wusste, warum.
Meine Mutter war jetzt drei Jahre tot.
Als ich ihm all das sagte, was ich zu sagen hatte, sanken wir beide schluchzend zu Boden. Am nächsten Tag zog Paul aus. Unseren Freunden erzählten wir, dass wir uns trennten, aber hofften, die Sache wieder hinbiegen zu können; dass wir uns nicht unbedingt scheiden lassen wollten. Zuerst reagierten sie ungläubig – wir seien doch so glücklich gewesen, sagten alle. Dann wurden sie sauer – nicht auf uns, sondern auf mich. Eine meiner liebsten
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