Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
gelernt hatte. Ich hatte diese Seite an mir schon als Elfjährige entdeckt, denn ich hatte immer ein prickelndes Gefühl der Macht verspürt, wenn erwachsene Männer die Köpfe nach mir drehten, pfiffen oder gerade so laut He, hübsches Kind sagten, dass ich es hören konnte. Auf diese Seite hatte ich meine gesamte Highschool-Zeit über vertraut, indem ich mich schlank hungerte und das süße Dummchen spielte, nur um beliebt und geliebt zu werden. Und ich hatte sie auch in meinen frühen Erwachsenenjahren gepflegt, indem ich verschiedene Rollen ausprobierte – als bodenständiges Mädchen, Punkerin, Cowgirl, Riot Girl und Draufgängerin. Es war die Seite meines Ichs, für die hinter jedem scharfen Paar Stiefel, jedem sexy Röckchen oder jeder aufregenden Frisur eine Falltür lauerte, die mich noch weiter von meinem wahren Ich entfernte.
Jetzt gab es nur eine Seite. Auf dem PCT blieb mir nichts anderes übrig, als diese Seite ganz zu leben und mein schmutziges Gesicht der Welt zu zeigen. Die, zumindest vorläufig, nur aus sechs Männern bestand.
»Cheryl?«, rief Dougs Stimme leise aus wenigen Metern Entfernung. »Bist du da drin?«
»Ja«, antwortete ich.
»Wir wollen zum Fluss runter. Komm doch mit.«
»Okay«, sagte ich und fühlte mich gegen meinen Willen geschmeichelt. Als ich mich aufsetzte, knisterte das Kondom in meiner Gesäßtasche. Ich zog es heraus, steckte es in das Erste-Hilfe-Set, kroch aus dem Zelt und ging zum Fluss.
Doug, Tom und Greg wateten an derselben Stelle, an der ich mich ein paar Stunden zuvor gewaschen hatte, im seichten Wasser. Hinter ihnen toste der Fluss mit reißender Gewalt und überspülte Felsblöcke so groß wie mein Zelt. Ich dachte an den Schnee, auf den ich bald stoßen würde, falls ich mit dem Eispickel, mit dem ich noch nicht umgehen konnte, und dem weißen Skistock mit der niedlichen rosa Halteschlaufe, den mir der Zufall in die Hände gespielt hatte, die Wanderung fortsetzen sollte. Ich hatte mich noch nicht damit beschäftigt, wie es auf dem Trail weiterging. Ich hatte nur zugehört und genickt, als Ed mir erzählte, dass die meisten Wanderer, die in den vorausgegangenen drei Wochen durch Kennedy Meadows gekommen waren, beschlossen hatten, hier auszusteigen, weil die Rekordschneemengen den Trail auf den nächsten sieben- bis achthundert Kilometern weitgehend unpassierbar machten. Laut Ed fuhren sie per Anhalter oder mit dem Bus weiter nach Norden, um in niedrigeren Höhenlagen wieder einzusteigen. Einige beabsichtigten, später im Sommer wiederzukommen und den Teil abzuwandern, den sie übersprungen hatten. Andere wollten ihn ganz auslassen. Ein paar hatten die Wanderung komplett abgebrochen, wie mir bereits Greg erzählt hatte, und wollten es in einem schneeärmeren Jahr noch einmal probieren. Und noch weniger waren weitermarschiert, fest entschlossen, dem Schnee zu trotzen.
Dankbar für meine billigen Lagersandalen bahnte ich mir durch die Steine am Ufer einen Weg zu den Männern. Das Wasser war so kalt, dass mir sogar die Knochen wehtaten.
»Ich habe etwas für dich«, sagte Doug, als ich bei ihm ankam, und streckte mir die Hand hin. Darin lag eine Feder, etwa dreißig Zentimeter lang und so schwarz, dass sie in der Sonne blau schimmerte.
»Wofür?«, fragte ich und nahm sie.
»Als Glücksbringer«, sagte er und berührte mich am Arm.
Als er die Hand wieder wegzog, brannte die Stelle, wo sie gelegen hatte – mir wurde bewusst, wie wenig ich in den letzten vierzehn Tagen berührt worden war, wie allein ich gewesen war.
»Ich habe über den Schnee nachgedacht«, sagte ich laut, um das Rauschen des Flusses zu übertönen. »Die Leute, die hier durchgekommen sind, waren alle ein oder zwei Wochen früher dran als wir. Inzwischen ist doch viel Schnee geschmolzen, sodass es jetzt vielleicht machbar ist.« Ich sah Greg an und dann die schwarze Feder und streichelte sie.
»Am ersten Juni lag auf dem Bighorn Plateau doppelt so viel Schnee wie zur gleichen Zeit im letzten Jahr«, sagte er und warf einen Stein ins Wasser. »In einer Woche wird sich daran nicht viel geändert haben.«
Ich nickte, als wüsste ich, was das Bighorn Plateau war oder was es bedeutete, wenn dort doppelt so viel Schnee lag wie vor einem Jahr. Ich kam mir wie eine Hochstaplerin vor, weil ich dieses Gespräch überhaupt führte, wie ein Maskottchen unter Spielern, als wären die anderen die wahren PCT-Wanderer und ich nur zufällig hier. Als wäre ich aufgrund meiner Unerfahrenheit und der
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