Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
sondern ein Zimmer, in das ich mich zurückziehen und in dem ich so sein konnte, wie ich wirklich war. Dieses Gefühl hatte sich durch das extreme Alleinsein auf dem PCT verändert. Alleinsein war jetzt kein Zimmer mehr, sondern die ganze Welt, und ich war allein auf dieser Welt und bewohnte sie in einer Weise, wie ich es nie zuvor getan hatte. So ungebunden zu leben und nicht einmal ein Dach über dem Kopf zu haben, das ließ sie mir zugleich größer und kleiner erscheinen. Bis dahin hatte ich die Weite der Welt nie richtig begriffen – nicht einmal, wie weit ein Kilometer sein konnte –, bis ich jeden Kilometer im Schritttempo wahrnahm. Und doch empfand ich auch das Gegenteil, empfand ich mittlerweile eine seltsame Verbundenheit mit dem Trail, eine Vertrautheit mit den Pinyon-Kiefern und Gauklerblumen, an denen ich vorüberkam, mit den seichten Bächen, die ich durchwatete, obwohl ich sie noch nie gesehen, sie noch nie durchquert hatte.
Als ich an diesem kühlen Vormittag zum rhythmischen Klicken meines neuen Skistocks wanderte, spürte ich, wie das verringerte, aber immer noch horrende Gewicht des Monsters verrutschte und dann irgendwann zur Ruhe kam. Beim Aufbruch am Morgen hatte ich angenommen, ich würde mich auf dem Trail jetzt anders fühlen und das Wandern würde mir leichter fallen. Schließlich war der Rucksack leichter, und nicht nur weil Albert ihn entrümpelt hatte, sondern auch, weil ich auf diesem weniger trockenen Abschnitt des Trails nie mehr als zwei Flaschen Wasser gleichzeitig mitführen musste. Doch als ich nach anderthalb Stunden stehen blieb, um eine kurze Pause einzulegen, plagten mich die altbekannten Schmerzen. Gleichzeitig spürte ich aber auch, wenn auch noch so schwach, dass mein Körper zäher wurde, genau wie mir Greg prophezeit hatte.
Es war der erste Tag der dritten Woche – die letzte Juniwoche und somit offiziell Sommer –, und als ich in die South Sierra Wilderness hinaufstieg, wechselte ich nicht nur in eine andere Jahreszeit, sondern auch in ein anderes Land. Auf den fünfundsechzig Kilometern zwischen Kennedy Meadows und dem Trail Pass würde ich von 1860 Meter auf gut 3300 Meter Höhe klettern. Und obwohl es an diesem ersten Nachmittag nach meiner Rückkehr auf den Trail sehr heiß war, spürte ich, dass es in der Nacht empfindlich abkühlen würde. Kein Zweifel, ich war jetzt in der Sierra, in Muirs geliebtem Gebirge des Lichts. Ich wanderte unter hohen dunklen Bäumen, die alle kleineren Pflanzen darunter fast ganz in Schatten tauchten. Ich kam an großen Wiesen mit Wildblumen vorbei und überwand Schmelzwasserbäche, indem ich mit Hilfe des Skistocks von einem wackligen Stein zum nächsten hüpfte. Im Schritttempo erschien mir die Sierra Nevada gerade noch überwindlich. Ich brauchte ja immer nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nur wenn ich um eine Kurve bog und die weißen Gipfel vor mir erblickte, kamen mir Zweifel. Nur wenn ich daran dachte, wie weit ich noch zu gehen hatte, verlor ich den Glauben, dass ich es schaffen konnte.
In regelmäßigen Abständen entdeckte ich Dougs und Toms Spuren auf dem mal schlammigen, mal staubigen Pfad, und am Nachmittag holte ich sie ein. Sie saßen an einem Bach und blickten erstaunt, als ich auftauchte. Ich setzte mich zu ihnen, pumpte Wasser und unterhielt mich eine Weile mit ihnen.
»Du solltest heute bei uns kampieren, wenn du uns einholst«, sagte Tom, bevor sie weiterwanderten.
»Ich habe euch doch schon eingeholt«, erwiderte ich, und wir lachten.
Am Abend spazierte ich auf die kleine Lichtung, auf der sie ihre Zelte aufgebaut hatten. Nach dem Essen saßen wir warm eingemummt im Gras und leerten zusammen die zwei Dosen Bier, die sie aus Kennedy Meadows mitgebracht hatten. Beim Trinken fragte ich mich, welcher von beiden wohl die elf extradünnen Kondome ohne Gleitmittel eingesteckt hatte. Eigentlich konnte es nur einer von ihnen gewesen sein.
Am nächsten Tag, als ich wieder allein wanderte, stieß ich an einem Steilhang auf ein breites Schneefeld, das wie eine riesige, eisverkrustete Decke über dem Pfad lag. Es kam mir wie das Geröllfeld des Bergsturzes vor, nur noch Furcht einflößender, ein Fluss aus Eis statt aus Steinen. Wenn ich bei dem Versuch, es zu durchqueren, ausglitt, würde ich den Hang hinunterrutschen und unten in die Felsen krachen oder, schlimmer noch, in den Abgrund stürzen, der, wie es von oben aussah, gleich dahinter begann. Wenn ich es gar nicht erst versuchte, musste ich nach Kennedy
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