Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Punkt.«
Wir saßen eine Weile schweigend da, dann aßen wir zu Abend, wobei jeder mit behandschuhten Händen aus einem warmen Topf Reis, Bohnen oder Nudeln löffelte. Es stimmte mich traurig, dass ich ablehnen musste. Nicht nur weil das bedeutete, dass ich die High Sierra ausließ, sondern auch weil ich in ihrer Gesellschaft ruhiger war. Wenn ich Tom und Doug nachts in meiner Nähe wusste, brauchte ich mir nicht ständig Ich habe keine Angst zu sagen, wenn ich in der Dunkelheit einen Zweig knacken hörte oder der Wind so heftig am Zelt rüttelte, dass ich das Gefühl hatte, es müsste gleich etwas Schlimmes passieren. Aber ich war nicht hier draußen, um dieser Angst aus dem Weg zu gehen. Ich war hier draußen, um mich dieser Angst zu stellen, sie zu überwinden, ja, um alles zu überwinden – alles, was ich mir angetan hatte, und alles, was mir angetan worden war. Das konnte ich nicht, wenn ich mich anderen anschloss.
Nach dem Essen lag ich im Zelt, mit Flannery O’Connors Complete Stories auf der Brust, da ich zu müde war, das Buch zu halten. Und das nicht nur, weil ich fror und vom Wandern erschöpft war: Auch die dünne Luft in dieser Höhe machte mir zu schaffen. Trotzdem konnte ich nicht richtig einschlafen. In einer Art Dämmerzustand dachte ich darüber nach, welche Konsequenzen es hatte, dass ich die High Sierra ausließ. Im Grunde warf es meine gesamte Planung über den Haufen. Sämtliche Vorbereitungen bis zum letzten Versorgungspaket und zur letzten Mahlzeit. Ich würde 720 Kilometer des Trails überspringen, die ich ursprünglich hatte abwandern wollen. Statt Mitte September würde ich schon Anfang August in Ashland ankommen.
»Doug?«, rief ich in die Dunkelheit, da sein Zelt nur eine Armlänge von meinem entfernt stand.
»Ja?«
»Ich habe mir was überlegt. Wenn ich die High Sierra auslasse, könnte ich stattdessen ganz Oregon durchwandern.« Ich drehte mich auf die Seite und blickte in die Richtung, in der sein Zelt stand, halb in dem Wunsch, er würde zu mir kommen und sich neben mich legen – oder irgendein anderer. Es war dasselbe Verlangen, dasselbe Gefühl der Leere, das ich in dem Motel in Mojave empfunden hatte, als ich mir Gesellschaft wünschte. Nicht jemanden zum Lieben. Nur jemanden, an den ich meinen Körper schmiegen konnte. »Weißt du zufällig, wie lang der Trail in Oregon ist?«
»Rund achthundert Kilometer«, antwortete er.
»Das ist perfekt«, sagte ich, und mein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, bevor ich die Augen schloss und in tiefen Schlaf fiel.
Am Nachmittag darauf wurde ich kurz vor dem Trail Pass Trail, wo ich abbiegen wollte, von Greg eingeholt.
»Ich überspringe«, gestand ich ihm schweren Herzens.
»Ich auch«, erwiderte er.
»Tatsächlich?«, fragte ich erleichtert und erfreut.
»Hier oben liegt einfach zu viel Schnee«, sagte er, und wir blickten in die Runde zu den windschiefen Fuchsschwanzkiefern zwischen den Felsblöcken am Rand des Wanderpfads. Berge und Kämme waren unter dem klaren blauen Himmel kilometerweit zu sehen. Vom höchsten Punkt des Trails trennten uns nur fünfundfünfzig Wanderkilometer. Der Gipfel des Mount Whitney, des höchsten Berges der USA außerhalb Alaskas, lag noch näher, einen kurzen Abstecher vom PCT entfernt.
Gemeinsam folgten wir dem Trail Pass Trail gut drei Kilometer bergab bis zu einem Rast- und Zeltplatz bei Horseshoe Meadows. Dort trafen wir Doug und Tom und fuhren per Anhalter nach Lone Pine, was ich ursprünglich gar nicht vorgehabt hatte. Manche PCT-Wanderer hatten sich Versorgungspakete nach Lone Pine geschickt, aber ich hatte eigentlich bis zu der Ortschaft Independence, die achtzig Trail-Kilometer weiter im Norden lag, durchwandern wollen. Ich hatte noch Proviant für mehrere Tage im Rucksack, doch als wir in das Städtchen kamen, ging ich sofort in ein Lebensmittelgeschäft und füllte meine Vorräte auf. Ich brauchte genug für die 155 Kilometer von Sierra City nach Belden Town. Anschließend suchte ich mir ein Telefon, rief Lisa an und sprach ihr eine Nachricht auf den Anrufbeantworter. Ich erläuterte ihr kurz meinen neuen Plan und bat sie, das Paket für Belden Town sofort aufzugeben und mit der Versendung aller anderen zu warten, bis ich ihr Näheres über meine geänderte Route mitteilte.
Ich fühlte mich niedergeschlagen, als ich den Hörer auflegte, und längst nicht so aufgeregt, wieder in einer Stadt zu sein, wie ich erwartet hatte. Ich ging die Hauptstraße entlang, bis ich die Männer
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