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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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meine Mutter gesprochen hatte, als sie den Arzt in der Mayo Clinic fragte, ob sie noch reiten dürfe, nachdem er ihr mitgeteilt hatte, dass sie sterben würde. Lady war nicht der richtige Name der Stute, wir nannten sie nur so. Sie war ein registriertes American Saddlebred, und ihr offizieller Name stand in seiner ganzen Pracht im mitgelieferten Zertifikat des Pferdezüchterverbands: Stonewall’s Highland Nancy, Vater Stonewall Sensation und Mutter Mack’s Golden Queen. Meine Mutter hatte Lady wider alle Vernunft in dem schrecklichen Winter gekauft, als sie sich endgültig von meinem Vater trennte. Sie hatte in dem Restaurant, in dem sie bediente, ein Ehepaar kennengelernt, das günstig eine reinrassige zwölfjährige Stute verkaufen wollte, und obwohl sich meine Mutter nicht einmal ein billiges Pferd leisten konnte, sah sie sich die Stute an und einigte sich mit dem Paar auf einen Preis von dreihundert Dollar, zahlbar innerhalb von sechs Monaten. Und mit einem anderen Ehepaar, das in der Nähe einen Stall besaß, in dem sie Lady unterstellen konnte, traf sie die Vereinbarung, als Ersatz für die Stallgebühren Arbeitenzu übernehmen.
    »Sie ist umwerfend«, sagte meine Mutter jedes Mal, wenn sie Lady beschrieb, und das war sie. Widerristhöhe fast 1,65 Meter, schlank und langbeinig, mit stolzem Gang und elegant wie eine Königin. Sie hatte einen weißen Stern auf der Stirn, aber das übrige Fell hatte das gleiche rötliche Kastanienbraun wie der Fuchs, den ich im Schnee gesehen hatte.
    Ich war sechs, als meine Mutter sie kaufte. Wir lebten in einer Souterrainwohnung in einem Wohnkomplex namens Barbara Knoll. Meine Mutter hatte sich gerade endgültig von meinem Vater getrennt. Wir hatten kaum genug Geld zum Leben, aber meine Mutter musste dieses Pferd einfach haben. Obwohl noch ein Kind, spürte ich, dass Lady meiner Mutter das Leben rettete. Sie gab ihr neuen Mut. Pferde waren die Religion meiner Mutter. Als Kind hätte sie all die Sonntage, an denen sie Kleider anziehen und zur Messe gehen musste, viel lieber mit Pferden verbracht. Die Geschichten, die sie mir über Pferde erzählte, bildeten einen Kontrapunkt zu den anderen Geschichten, die sie mir über ihre katholische Erziehung erzählte. Sie tat alles, um reiten zu können. Sie mistete Ställe aus und polierte Zaumzeug, fuhr Heu und schüttete Stroh auf, erledigte alle erdenklichen Arbeiten, nur damit sie die Erlaubnis bekam, sich in irgendeinem Stall in der Nähe aufzuhalten und jemandes Pferd zu reiten.
    Von Zeit zu Zeit kamen mir Bilder aus ihrem früheren Cowgirl-Leben in den Sinn, Momentaufnahmen so klar und deutlich, als hätte ich sie in einem Buch gesehen. Von den nächtlichen Überlandritten, die sie mit ihrem Vater in New Mexico unternommen hatte. Von den waghalsigen Rodeo-Tricks, die sie mit ihren Freundinnen eingeübt und vorgeführt hatte. Mit sechzehn bekam sie ein eigenes Pferd, einen Palomino namens Pal, den sie bei Turnieren und Rodeos in Colorado ritt. Die Preisschleifen, die sie dabei gewonnen hatte, bewahrte sie bis zu ihrem Tod auf. Ich hatte sie in einen Karton gepackt, der nun in Lisas Keller in Portland stand. Eine gelbe für einen dritten Platz im Tonnenrennen; eine rosafarbene für einen fünften Platz in den drei Grundgangarten; eine grüne für einen sechsten Platz in der Disziplin Showmanship, bei der die Jury bewertet, wie der Reiter sein Pferd am Halfter vorstellt; und eine blaue für einen ersten Platz in einer Disziplin, bei der sie mit dem Pferd in allen Grundgangarten einen Hindernisparcours mit Schlammlöchern und engen Kurven absolvieren und dabei unter lautem Getröte und Gelächter von Clowns in der ausgestreckten Hand auf einem Löffel ein Ei balancieren musste, was ihr länger gelang als allen anderen.
    In dem Stall, in dem Lady zuerst untergestellt war, verrichtete meine Mutter die gleichen Arbeiten wie als Kind, säuberte die Boxen, schüttete Stroh auf und fuhr mit einem Schubkarren Sachen hin und her. Oft nahm sie Karen, Leif und mich mit. Wir spielten in der Scheune, während sie arbeitete. Hinterher sahen wir zu, wie sie mit Lady im Kreis ritt, und wenn sie fertig war, durften auch wir abwechselnd aufsitzen. Als wir auf das Stück Land im Norden Minnesotas zogen, besaßen wir bereits ein zweites Pferd, einen Mischlingswallach namens Roger, den meine Mutter gekauft hatte, weil ich mich sofort in ihn verliebt hatte und sein Besitzer bereit gewesen war, ihn für einen Apfel und ein Ei abzugeben. Wir transportierten

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