Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
Vom Netzwerk:
produzierte, obwohl er Zimmermann von Beruf war. Er hatte sanfte blaue Augen, eine scharf geschnittene Nase und lange braune Haare, die ihm, zu einem Pferdeschwanz gebunden, über den halben Rücken fielen.
    An dem Abend, als ich ihn kennenlernte, kam er zum Essen in die Siedlung, in der wir wohnten. Sie hieß Tree Loft und war bereits unsere dritte seit der Trennung unserer Eltern. Alle Wohnhäuser standen im Umkreis von einem Kilometer. Die Ortschaft hieß Chaska und lag eine Autostunde von Minneapolis entfernt. Wir zogen immer sofort um, wenn meine Mutter eine billigere Wohnung fand. Als Eddie kam, stand meine Mutter noch in der Küche, und so ging er mit uns Kindern nach draußen auf den kleinen Rasen vor dem Haus. Wir spielten Fangen, und wenn er uns erwischte, hob er uns in die Höhe und ließ uns mit dem Kopf nach unten in der Luft baumeln, um festzustellen, ob uns Geldstücke aus den Taschen fielen. Wenn ja, klaubte er sie aus dem Gras und rannte davon und wir hinter ihm her, quietschend vor Freude, jener besonderen Freude, die uns bis dahin versagt geblieben war, weil uns nie ein Mann richtig geliebt hatte. Er kitzelte uns und sah zu, wie wir Tanznummern vorführten und Räder schlugen. Er brachte uns lustige Lieder und komplizierte Handzeichen bei. Er stahl uns Nasen und Ohren und zeigte sie uns, indem er den Daumen durch die Finger steckte, ehe er sie uns lachend wieder zurückgab. Als unsere Mutter zum Essen rief, war ich so vernarrt in ihn, dass ich überhaupt keinen Appetit mehr hatte.
    In unserer Wohnung gab es kein Esszimmer. Wir hatten zwei Schlafzimmer, ein Badezimmer und ein Wohnzimmer mit einer kleinen Ecknische, in der ein paar Küchenschränke, Arbeitsplatte, Herd und Kühlschrank untergebracht waren. Mitten im Raum stand ein großer runder Holztisch, dessen Beine so weit abgesägt waren, dass er nur kniehoch war. Meine Mutter hatte ihn den Vormietern für zehn Dollar abgekauft. Beim Essen saßen wir auf dem Boden um den Tisch herum. Wir sagten, wir seien Chinesen, ohne zu ahnen, dass es in Wahrheit die Japaner waren, die an so niedrigen Tischen aßen. Haustiere waren in der Tree-Loft-Siedlung nicht gestattet. Wir hielten trotzdem einen Hund namens Kizzy und einen Kanarienvogel namens Canary, der frei in der Wohnung herumflog.
    Es war ein wohlerzogener Vogel. Er kackte auf ein Stück Zeitungspapier in einem Katzenklo in der Ecke. Ob ihn meine Mutter darauf dressiert hatte oder ob er es von allein tat, weiß ich nicht. Jedenfalls landete er ein paar Minuten, nachdem wir uns alle um den Tisch gesetzt hatten, auf Eddies Kopf. Wenn er sich auf einem von uns niederließ, blieb er normalerweise nur ganz kurz sitzen und flog dann wieder weg, aber auf Eddies Kopf blieb er. Wir kicherten. Eddie sah uns an und fragte mit gespielter Ahnungslosigkeit, worüber wir lachten.
    »Da sitzt ein Kanarienvogel auf deinem Kopf«, antworteten wir.
    »Was?«, rief er und schaute sich scheinbar verwundert im Zimmer um.
    »Da sitzt ein Kanarienvogel auf deinem Kopf!«, kreischten wir.
    »Wo?«, fragte er.
    »Auf deinem Kopf!« Wir gerieten völlig außer Rand und Band vor Begeisterung.
    Da saß ein Kanarienvogel auf seinem Kopf, und wie durch ein Wunder blieb er das ganze Essen über dort sitzen und auch noch danach, ehe er es sich gemütlich machte und vor lauter Wohlgefühl einschlief.
    Auch Eddie fühlte sich wohl.
    Zumindest bis zum Tod meiner Mutter. Ihre Krankheit hatte uns beide anfangs einander sogar noch nähergebracht. In den Wochen ihres Leidens waren wir Kameraden geworden – wechselten uns im Krankenhaus ab, berieten uns in medizinischen Fragen, weinten zusammen, als wir erfuhren, dass das Ende nahe war, gingen nach ihrem Tod zusammen zum Bestattungsunternehmer. Doch bald danach zog sich Eddie von meinen Geschwistern und mir zurück. Er verhielt sich wie unser Freund und nicht wie unser Vater. Dann verliebte er sich in eine andere Frau, und wenig später zog sie mit ihren Kindern in unser Haus ein. Als der Todestag meiner Mutter sich zum ersten Mal jährte, waren Karen, Leif und ich weitgehend auf uns allein gestellt. Die meisten Sachen meiner Mutter hatte ich in Kartons gepackt und weggeräumt. Wir hätten uns noch gern, sagte Eddie, aber das Leben gehe weiter. Er sei noch unser Vater, behauptete er, aber er tat nichts, um es zu beweisen. Ich empörte mich darüber, aber schließlich musste ich mich damit abfinden, dass meine Familie nicht mehr existierte.
    Man kann einen Hund nicht zum Jagen tragen,

Weitere Kostenlose Bücher