Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Sie wiegte den Kopf und gab ein tiefes Stöhnen von sich. Plötzlich schoss aus ihren Nüstern ein Schwall Blut, so warm, dass es zischte, als das Blut auf dem Schnee auftraf. Sie hustete und hustete, und jedes Mal ergoss sich ein neuer, fürchterlicher Schwall aus ihrem Maul. In quälender Langsamkeit gaben die Hinterläufe unter ihr nach. Wie schwebend verharrte sie, versuchte auf groteske Weise, sich wieder aufzurichten, und fiel schließlich auf die Seite, schlug wild mit den Beinen um sich, verdrehte den Hals und versuchte abermals aufzustehen.
»Lady!«, heulte ich. »Lady!«
Leif packte mich. »Schau nicht hin!«, schrie er, und wir drehten uns weg.
»SCHAU WEG!«, brüllte er Paul an, und Paul gehorchte.
»Bitte hol sie«, rief Leif immer wieder, während ihm Tränen übers Gesicht liefen. »Hol sie. Hol sie. Hol sie.«
Als ich mich umdrehte, lag Ladys Kopf im Schnee, doch ihre Beine zuckten, und ihr Leib hob und senkte sich noch. Wir taumelten, wieder bis zu den Knien im verharschten Schnee versunken, zu ihr. Sie atmete in schweren, langsamen Stößen, dann gab sie einen Seufzer von sich und rührte sich nicht mehr.
Das Pferd unserer Mutter, Lady, Stonewall’s Highland Nancy war tot.
Ich weiß nicht, ob es fünf Minuten oder eine Stunde gedauert hatte. Ich hatte meine Fäustlinge und meine Mütze verloren, aber ich brachte es nicht über mich, sie aufzuheben. Meine Wimpern waren zu Klumpen gefroren. Haarsträhnen, die mir der Wind in das von Rotz und Tränen nasse Gesicht geweht hatte, waren zu Eiszapfen erstarrt, die klirrten, wenn ich mich bewegte. Ich schob sie weg, wie benommen und ohne jedes Gefühl für die Kälte. Ich kniete neben Ladys Bauch nieder und strich über ihren blutbespritzten Körper. Sie war noch warm, so wie meine Mutter, als ich in das Krankenhauszimmer gekommen war und gesehen hatte, dass sie ohne mich gestorben war. Ich blickte zu Leif und fragte mich, ob auch er in diesem Augenblick daran dachte. Ich kroch zu ihrem Kopf und strich über ihre Ohren. Sie waren kalt und weich wie Samt. Ich legte die Hände auf die schwarzen Einschusslöcher in dem weißen Stern. Die tiefen Höhlen, die das Blut um Lady herum in den Schnee gebrannt hatte, froren bereits wieder zu.
Paul und ich sahen zu, wie Leif ein Messer zückte und büschelweise Haare aus Ladys Mähne und Schwanz schnitt.
»Jetzt kann Mom ans andere Ufer«, sagte er und sah mir in die Augen, als gäbe es nur uns beide auf der Welt. »Das glauben die Indianer – wenn ein großer Krieger stirbt, muss man auch sein Pferd töten, damit er den Fluss überqueren und ans andere Ufer kommen kann. Auf diese Weise erweist man ihm Respekt. Jetzt kann Mom davonreiten.«
Ich stellte mir vor, wie unsere Mutter auf Ladys kräftigem Rücken über einen großen Fluss ritt und uns drei Jahre nach ihrem Tod endgültig verließ. Ich hätte mir gewünscht, dass es wahr wäre. Hätte ich einen Wunsch frei gehabt, so hätte ich mir das gewünscht. Nicht dass meine Mutter zu mir zurückkam – obwohl ich das natürlich wollte –, sondern dass sie und Lady zusammen fortritten. Dann wäre das Schlimmste, was ich jemals getan hatte, etwas Heilsames und keine Metzelei gewesen.
Nach meiner Vertreibung vom Whitehorse Campground schlief ich irgendwo im Wald. Und ich träumte von Schnee. Nicht von dem Schnee, in dem mein Bruder und ich Lady getötet hatten, sondern von dem Schnee, durch den ich oben in den Bergen gewandert war. Die Erinnerung daran war beängstigender, als es das Erlebnis selbst gewesen war. Die ganze Nacht träumte ich Dinge, die gar nicht geschehen waren, aber hätten geschehen können. Ich rutschte einen tückischen Hang hinunter und über die Kante einer Felswand hinaus oder prallte unten gegen die Felsen. Ich marschierte und stieß nie auf diese Straße, sondern irrte verhungernd umher.
Beim Frühstück am nächsten Morgen las ich in meinem Wanderführer. Wenn ich wie geplant auf den PCT zurückkehrte, musste ich wieder durch Schnee wandern, soviel war klar. Vor dem Gedanken graute mir, und beim Blick in die Karte begriff ich, dass ich das gar nicht brauchte. Ich konnte zum Whitehorse Campground zurück und weiter nach Westen zum Bucks Lake. Von dort schlängelte sich eine Jeep-Piste nach Norden und stieß bei den Three Lakes auf den PCT. Die Ausweichroute war etwa genauso lang wie der PCT, ungefähr fünfundzwanzig Kilometer, verlief aber in so geringer Höhe, dass Aussicht bestand, dass sie schneefrei war. Ich packte meine
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