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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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zog aus. An den folgenden Weihnachten sprachen wir über Scheidung.
    »Tu, was du für richtig hältst«, sagte er an diesem Weihnachtsmorgen. Wir saßen am Küchentisch. Jede Ritze und Kerbe in der Platte war mir vertraut, und dennoch fühlte ich mich weit weg von zu Hause, wie allein auf einer Eisscholle.
    »Ich weiß nicht, was richtig ist«, sagte ich, aber das stimmte nicht. Ich wusste sehr wohl, was zu tun war. Dasselbe, was ich nun so häufig tun musste: das kleinere von zwei Übeln wählen. Aber ohne meinen Bruder konnte ich es nicht. Paul und ich hatten uns zuvor schon eine Waffe gekauft – Leif hatte uns im letzten Winter beigebracht, wie man damit umging –, aber keiner von uns beiden traute es sich zu. Leif war zwar kein passionierter Jäger, aber er kannte sich wenigstens einigermaßen mit solchen Dingen aus. Ich rief ihn an, und er kam noch am selben Abend.
    Am nächsten Morgen besprachen wir im Einzelnen, was zu tun war. Ich berichtete ihm alles, was ich von unserem Großvater erfahren hatte.
    »Okay«, sagte er. »Bereite alles vor.«
    Draußen schien die Sonne, der Himmel war kristallblau. Gegen elf hatte es sich auf 27 Grad unter null erwärmt. Wir mummten uns dick ein. Es war so kalt, dass die Rinden der Bäume aufplatzten und so laut knallten, dass ich es in der Nacht, in der ich kein Auge zugetan hatte, sogar im Bett gehört hatte.
    Ich redete Lady gut zu, als ich ihr das Halfter umlegte, sagte ihr, wie sehr ich sie liebte, und führte sie aus dem Stall. Paul schloss die Tür hinter uns, damit uns Roger nicht folgen konnte. Ich führte sie durch den verharschten Schnee und drehte mich um, um ein letztes Mal ihren Gang zu bewundern. Sie schritt immer noch mit unbeschreiblicher Eleganz und Kraft, zeigte die eindrucksvoll ausholende und hohe Bewegung der Vorderbeine, die meiner Mutter immer den Atem geraubt hatte. Ich führte sie zu einer Birke, die Paul und ich am Nachmittag zuvor ausgewählt hatten, und band sie mit ihrem Führstrick daran fest. Der Baum stand ganz am Rand der Weide. Dahinter begann dichter Wald. Außerdem war die Stelle so weit vom Haus entfernt, dass ich hoffte, die Kojoten würden in der Nacht kommen und den Kadaver holen. Ich sprach mit ihr und streichelte ihr kastanienbraunes Fell, flüsterte zärtliche und kummervolle Worte, bat sie um Verzeihung und Verständnis.
    Als ich aufschaute, stand mein Bruder mit seinem Gewehr da.
    Paul nahm meinen Arm, und zusammen stapften wir durch den Schnee und stellten uns hinter Leif. Wir waren nur zwei Meter von Lady entfernt. Ihr warmer Atem war wie eine seidene Wolke. Die gefrorene Schneekruste trug uns noch einen Augenblick, dann sanken wir bis zu den Knien ein.
    »Genau zwischen die Augen«, sagte ich zu Leif, noch einmal die Worte unseres Großvaters wiederholend. Auf diese Weise, so hatte er mir versichert, könnten wir sie mit einem einzigen sauberen Schuss töten.
    Leif ließ sich auf ein Knie sinken. Lady tänzelte und scharrte mit den Vorderhufen im Eis, dann senkte sie den Kopf und sah uns an. Ich sog scharf die Luft ein, und Leif drückte ab. Die Kugel traf Lady genau zwischen die Augen, mitten in den weißen Stern, wie wir gehofft hatten. Sie prallte so heftig zurück, dass ihr Lederstrick riss und zu Boden fiel, und dann stand sie reglos da und sah uns erstaunt an.
    »Schieß noch mal«, stieß ich hervor, und Leif feuerte ihr in rascher Folge drei weitere Kugeln in den Kopf. Sie taumelte und zuckte, aber sie fiel nicht um und lief auch nicht weg, obwohl sie nicht mehr festgebunden war. Ihre Augen blickten uns an, verstört, schockiert über unser Tun, das Gesicht voller blutloser Löcher. In diesem Augenblick begriff ich, dass wir das Falsche taten, nicht weil wir sie töteten, sondern weil wir geglaubt hatten, wir müssten es selber tun. Ich hätte darauf bestehen sollen, dass Eddie es tat oder auf seine Kosten den Tierarzt kommen ließ. Ich hatte mir falsche Vorstellungen davon gemacht, was es hieß, ein Tier zu töten. So etwas wie einen sauberen Schuss gab es nicht.
    »Erschieß sie! Erschieß sie!«, flehte ich mit kehlig jammernder Stimme, die ich nicht als meine erkannte.
    »Ich habe keine Munition mehr!«, brüllte Leif.
    »Lady!«, kreischte ich. Paul packte mich an den Schultern und zog mich an sich, doch ich stieß ihn weg, schnaufend und wimmernd.
    Lady machte einen wackeligen Schritt und fiel dann auf die Vorderknie. Ihr Rumpf neigte sich hässlich nach vorn wie ein großes Schiff, das langsam im Meer versank.

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