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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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ich es nie bis hier herauf geschafft.«
    »Das Gebirge des Lichts«, sagte ich und gab ihm den Joint zurück. »So hat John Muir die Sierra genannt. Ich verstehe inzwischen, warum. Ich habe noch nie so ein Licht gesehen wie hier draußen. Die vielen Sonnenuntergänge und Sonnenaufgänge in den Bergen.«
    »Sind Sie auf einer spirituellen Wanderung?«, fragte Paco, ins Feuer blickend.
    »Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Vielleicht könnte man es so nennen.«
    »Ganz bestimmt sogar«, sagte er, sah mich durchdringend an und stand auf. »Ich habe da was, was ich Ihnen gern schenken würde.« Er ging zum Heck des Pick-ups, kam mit einem T-Shirt zurück und gab es mir. Ich hielt es in die Höhe. Vorn drauf war ein riesiges Foto von Bob Marley, seine Dreadlocks umrahmt von elektrischen Gitarren und präkolumbischen Profilköpfen. Auf dem Rücken prangte, in einen rot-grün-goldenen Farbwirbel eingefasst, das Konterfei Haile Selassies, jenes Mannes, den die Rastafari für den Mensch gewordenen Gott hielten. »Das ist ein heiliges Hemd«, sagte Paco, während ich es im Feuerschein betrachtete. »Ich möchte, dass Sie es bekommen, denn ich spüre, dass Sie mit den Geistern der Tiere wandern, mit den Geistern der Erde und des Himmels.«
    Ich nickte, sprachlos vor Ergriffenheit und, halb betrunken und komplett stoned, wie ich war, fest davon überzeugt, dass das Shirt wirklich heilig war. »Danke«, sagte ich.
    Zurück in meinem Lager, stand ich da und blickte, das Shirt in der Hand, zu den Sternen, bevor ich in mein Zelt kroch. Durch die kühle Luft wieder etwas nüchterner, sann ich darüber nach, was Paco gesagt hatte. Mit den Geistern wandern. Was hatte das überhaupt zu bedeuten? Wanderte ich mit den Geistern? Oder meine Mutter? Wohin war sie nach ihrem Tod gegangen? Wo war Lady? Waren sie wirklich über den Fluss ans andere Ufer geritten? Der Verstand sagte mir, dass sie nur gestorben waren, mehr nicht, obwohl sie mir wiederholt im Traum erschienen waren. Meine Träume von Lady waren das Gegenteil der Träume, die ich von meiner Mutter gehabt hatte – die, in denen sie mir immer wieder befohlen hatte, sie zu töten. In den Träumen von Lady musste ich niemanden töten. Ich musste nur einen riesigen und fantastisch bunten Blumenstrauß entgegennehmen, den sie mir in ihrem weichen Maul brachte. Sie stupste mich jedes Mal so lange mit der Nase, bis ich ihn nahm, und mit diesem Geschenk, das wusste ich, wurde mir verziehen. Aber stimmte das? War das wirklich ihr Geist, oder kam alles nur aus der Tiefe meines Unterbewusstseins?
    Ich trug Pacos Shirt, als ich am nächsten Morgen auf den PCT zurückkehrte und in Richtung Belden Town weiterwanderte. Unterwegs bekam ich immer wieder flüchtig den Lassen Peak zu sehen. Der schneebedeckte und 3187 Meter hohe Vulkan lag rund achtzig Kilometer weiter nördlich und stellte für mich nicht nur wegen seiner majestätischen Größe einen Orientierungspunkt dar, sondern auch weil er der erste Berg der Cascade Range war, in die ich direkt hinter Belden Town vorstoßen würde. Vom Lassen aus reihten sich die Gipfel der High Cascades zwischen Hunderten anderen, weniger bekannten Bergen in Richtung Norden. An ihnen würde ich in den kommenden Wochen ablesen können, wie ich vorankam. Sie erschienen mir wie ein Klettergerüst, an dem ich als Kind geturnt hatte. Jedes Mal, wenn ich mich von einer Strebe zur anderen gehangelt hatte, wartete schon die nächste. Auf den Lassen Peak folgt der Mount Shasta, dann der Mount McLoughlin, der Mount Thielsen und die Three Sisters – unterteilt in die südliche, die mittlere und die nördliche »Schwester« –, dann der Mount Washington, der Three Fingered Jack, der Mount Jefferson und schließlich der Mount Hood, nach dessen Überquerung mich nur noch rund achtzig Kilometer von der Brücke der Götter trennen würden. Alle diese Berge waren Vulkane und zwischen 2400 und 4200 Meter hoch. Sie gehörten zum Pazifischen Feuerring, einer 40.000 Kilometer langen Reihe von Vulkanen, die den Pazifischen Ozean hufeisenförmig umschließt, beginnend in Chile, dann an der Westküste Mittel- und Nordamerikas hinauf, hinüber nach Russland und wieder hinunter nach Japan, Indonesien und Neuseeland, bevor sie in der Antarktis endet.
    An meinem letzten Tag in der Sierra Nevada führte der Trail ununterbrochen bergab. Von den Three Lakes bis Belden waren es nur elf Kilometer, aber auf acht davon überwand der Trail gnadenlose 1200 Meter Höhenunterschied. Als ich in

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