Der Grüne Strahl
Tag haben, an dem die Messe
von Saint Olla, die Gott wieder ins Leben rufen möge, er-
öffnet wurde.«
»O würde er Sie erhören!« antwortete Patridge. »Auch
Mr. Sam und Mr. Sib selbst wären, wenn sie irgendeiner an-
deren jungen Schottin zugesellt worden wären, dem all-
gemeinen Schicksal nicht entgangen, und Miss Campbell
würde jetzt in ihrer Familie zwei Tanten mehr zählen.«
»Das geb’ ich gern zu, Patridge«, bestätigte Mrs. Bess,
»aber nun stellen Sie sich nur einmal vor, heute Miss Camp-
bell an Mr. Ursiclos zu vergeben, da flösse doch gleich der
Clyde von Helensburgh bis Glasgow stromaufwärts, wenn
diese Verbindung nicht binnen 8 Tagen aus den Fugen
ginge!«
Ohne die Unzuträglichkeiten hervorzuheben, die jene
jetzt übrigens verschwundenen, den Geschwistern von
Kirkwall zugestandenen Vertraulichkeiten mit sich führen
konnten, müssen wir doch damit übereinstimmen, daß die
Tatsachen Mrs. Bess unzweifelhaft recht gegeben hätten.
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Wie dem auch sei, Messen sind um der Geschäfte, nicht
um der Heiraten willen da. Wir müssen Mrs. Bess und Pa-
tridge also ihrer Trauer überlassen, obwohl die beiden trotz
ihres Plauderns keine Minute versäumten.
Die Abreise war festgesetzt, die Stelle für den Landauf-
enthalt gewählt. In den Journalen der vornehmen Welt las
man sicher am nächsten Tag unter der Rubrik ›Ortsver-
änderungen und Villeggiaturen‹ die Namen der beiden
Brüder Melvill und von Miss Campbell als abgereist nach
Oban. Doch auf welche Weise sollte diese Ortsveränderung
vor sich gehen? Diese Frage harrte noch der Lösung.
Zwei verschiedene Wege bieten sich, nach jener kleinen
Stadt zu gelangen, die an der Meerenge von Mull, einige 100
Meilen nordwestlich von Glasgow liegt.
Der eine ist ein Landweg. Man fährt nach Bowling, be-
rührt nachher, über Dumbarton und am rechten Ufer des
Leven entlang, Balloch am Ende des Lomond, überschreitet
diesen herrlichsten See Schottlands mit seinen dreißig In-
seln zwischen dessen historischen Gestaden, an die sich, im
Land Rob Roys und Robert Bruces, das Andenken der Mac-
Gregor und der MacFarlane knüpft; von hier aus kommt
man nach Dalmaly, und endlich gelangt der entzückte Tou-
rist auf einer Straße, welche die Bergabhänge umkreist, oft
nah der Küste verläuft, über Wasserfälle und Fjorde quer
durch die Vorläufer der Grampian-Berge hinführt und da-
bei sich durch Täler hinschlängelt, die von Eichen, Lärchen
und Weiden erfüllt sind, hinunter nach Oban, dessen Ufer-
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land sich getrost mit den schönsten Küstenpunkten des
ganzen Atlantischen Ozeans messen kann.
Das Ganze ist ein herrlicher Ausflug, den jeder Reisende
in Schottland gemacht hat oder doch machen sollte; ei-
nen Meereshorizont bietet er freilich in seinem Verlauf nir-
gends. Die Brüder Melvill, die Miss Campbell diesen Weg
vorschlugen, erfuhren deshalb auch nur eine Abweisung.
Die zweite Linie verläuft teils auf Strömen, teils auf dem
Meer. Wer diese einschlägt, muß zunächst den Clyde hinab-
fahren bis zu dem seinen Namen tragenden Golf, dann zwi-
schen den Inseln und Holmen hinsegeln, die diesen wun-
derlichen Archipel der Riesenhand eines Skeletts ähnlich
erscheinen lassen, die diesen Teil des Ozeans umkrallt, und
von hier führt er nach der rechten Seite weiter bis zum Ha-
fen von Oban. Das entsprach ganz Miss Campbells Wün-
schen, für die das hochinteressante Land um den Lomond-
und den Catherine-See keine Geheimnisse mehr barg.
Übrigens eröffnete sich durch den Zwischenraum zwischen
je zwei Inseln, draußen weit jenseits der Meerengen und
Golfe, da und dort ein weiter Ausblick über das Meer, des-
sen kreisrunde Grenze das Wasser bildete. Wenn nun auf
dieser kurzen Fahrt in der zurückliegenden Stunde keine
Dunstwand den Horizont verdeckte, wäre es ja nicht un-
möglich gewesen, jenen Grünen Strahl zu beobachten, des-
sen Dauer kaum 1/5 Sekunde beträgt.
»Du begreifst, Onkel Sam«, sagte Miss Campbell, »und
siehst ein, Onkel Sib, daß es sich eben nur um einen Mo-
ment handelt. Wenn ich gesehen habe, wonach mich ver-
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langt, ist die Reise als vollendet zu betrachten und es wird
zwecklos, sie noch bis Oban auszudehnen.«
Das stimmte mit den heimlichen Motiven der Brüder
Melvill freilich nicht überein. Sie wollten sich für einige Zeit
in Oban häuslich niederlassen – wir wissen ja, weshalb – und
verlangten gar nicht danach, durch ein zu
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