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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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zur rechten Zeit auffischte?«
    »Ja, Mr. Sinclair.«
    »Und Sie haben uns nicht wenig erschreckt«, fügte Bru-
    der Sib hinzu, »als wir rein durch Zufall Ihr in den Strudeln
    des Corryvrekan verlorenes Boot bemerkten.«
    »Ja, durch sehr glücklichen Zufall«, fuhr Bruder Sam
    fort, »und wahrscheinlich wären Sie ohne das Einschreiten
    von . . .« Hier gab Miss Campbell ihm durch ein Zeichen
    zu verstehen, daß sie nicht als Retterin geschildert werden
    wollte. Die Rolle einer ›Heiligen Jungfrau der Schiffbrüchi-
    gen‹ wollte sie auf keinen Fall übernehmen.
    »Aber, Mr. Sinclair«, ergriff Bruder Sam wieder das Wort,
    »wie konnte der alte Fischer, der Sie begleitete, nur so un-
    klug sein, sich in jenen Wirbelstrom zu wagen . . .«
    ». . . dessen Gefährlichkeit er als Landeskind doch ken-
    nen mußte?« schloß Bruder Sib den Satz.
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    »Ihn trifft keine Schuld, meine Herren«, antwortete Oli-
    vier Sinclair. »Die Unklugheit war ganz auf meiner Seite,
    und kurze Zeit glaubte ich gar, mir den Tod des wackeren
    Mannes zuschreiben zu müssen. Aber da auf der Oberfläche
    des gurgelnden Wassers spielten so überraschende Farb-
    töne, daß es aussah, als wäre eine feine Spitze über einen
    Grund von blauer Seide ausgebreitet. Ohne weitere Überle-
    gung trieb es mich gleichsam zur Jagd auf einige neue Nu-
    ancen inmitten dieses lichtgeschwängerten Wasserstaubs.
    Dabei gelangte ich weiter und weiter vor. Mein alter Fischer
    kannte die Gefahr recht gut und bemühte sich, uns zurück-
    zuhalten, er wollte zur Küste der Insel Jura hinübersteu-
    ern, ich aber hörte ihn kaum, bis unser Boot endlich von
    einer Strömung gepackt und dann unwiderstehlich dem
    tollen Strudel zugetrieben wurde. Wir versuchten alles, der
    Anziehung entgegenzuarbeiten . . . da verletzte ein heftiger
    Wogenschlag meinen Begleiter, der mich nun nicht weiter
    unterstützen konnte, und ohne das Erscheinen der ›Glen-
    garry‹, ohne die Hilfswilligkeit des Kapitäns und die Men-
    schenfreundlichkeit der Passagiere wären wir, mein Fischer
    und ich, nun schon der Legende verfallen und im Nekrolog
    des ›Corryvrekan‹ katalogisiert gewesen!«
    Miss Campbell hörte ihm zu, ohne ein Wort zu äußern,
    und erhob zuweilen ihre schönen Augen zu dem jungen
    Mann, der sie mit seinen Blicken keineswegs zu behelligen
    suchte. Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er
    von seiner Jagd oder vielmehr von seinem Fischzug nach
    Farbennuancen des Meeres erzählte.
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    War sie nicht auf ähnliche, wenn auch weniger gefähr-
    liche Abenteuer ausgezogen, auf die Jagd nach einer Far-
    bennuance des Himmels, auf die Jagd nach dem Grünen
    Strahl?
    Die Brüder Melvill machten auch unwillkürlich eine da-
    hinzielende Bemerkung, indem sie von der Veranlassung
    sprachen, die sie nach Oban geführt hatte, das heißt von der
    Absicht, jenes physikalische Phänomen zu beobachten, des-
    sen Natur sie dem jungen Maler erklärten.
    »Der Grüne Strahl!« rief Olivier Sinclair.
    »Sollten Sie ihn schon gesehen haben, Sir?« fragte leb-
    haft das junge Mädchen, »haben Sie ihn schon einmal ge-
    sehen?«
    »Nein, Miss Campbell«, antwortete Olivier Sinclair.
    »Wenn ich überhaupt nur gewußt hätte, daß es irgendwo
    einen Grünen Strahl gäbe! Nein, wirklich nicht! Nun gut,
    auch ich will ihn sehen. Die Sonne wird niemals unter dem
    Horizont verschwinden, ohne daß sie mich zum Zeugen ih-
    res Untergangs hat; und, beim heiligen Dunstan, ich werde
    nie mehr anderes, als das Grün ihres letzten Strahls wieder-
    geben!«
    Es war zuerst nur schwer zu entscheiden, ob Olivier Sin-
    clair nicht mit leichtem ironischen Anflug sprach oder aber
    sich wirklich von seiner Künstlernatur so plötzlich hinrei-
    ßen ließ. Miss Campbell sagte ein gewisses Vorgefühl, daß
    der junge Mann nicht scherzte.
    »Mr. Sinclair«, ergriff sie das Wort, »der Grüne Strahl ist
    nicht mein ausschließliches Eigentum; er leuchtet für alle
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    Welt und wird nichts an Wert verlieren, wenn er sich meh-
    reren Neugierigen auf einmal zeigt. Wir können also, wenn
    es Ihnen recht ist, versuchen, ihn zusammen zu sehen.«
    »Mit großem Vergnügen, Miss Campbell.«
    »Doch es gehört ein wenig Geduld dazu.«
    »Daran soll’s nicht fehlen . . .«
    »Und man darf nicht davor zurückschrecken, sich Au-
    genschmerzen zuzuziehen«, warf Bruder Sam ein.
    »Der Grüne Strahl ist es schon wert, das um seinetwil-
    len zu riskieren«, versicherte Olivier Sinclair,

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