Der Grüne Strahl
»und ich sage
Ihnen, daß ich Oban nicht verlassen werde, ohne ihn gese-
hen zu haben.«
»Wir haben uns schon einmal«, sagte Miss Campbell,
»auf die Insel Seil begeben, um diesen Strahl zu beobach-
ten, aber gerade in dem Augenblick, wo die Sonne versank,
verhüllte sie eine kleine, am Horizont hinziehende Wolke.«
»Das war ja fatal!«
»Gewiß, höchst fatal, Mr. Sinclair, denn seit jenem Tag
haben wir noch nicht wieder einen genügend klaren Him-
mel gehabt.«
»Der wird wohl nicht ausbleiben, Miss Campbell! Der
Sommer hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen, und
vor Eintritt der schlechten Jahreszeit, glauben Sie mir, wird
die Sonne uns auch noch mit dem Almosen ihres Grünen
Strahls bedenken.«
»Um Ihnen alles zu gestehen, Mr. Sinclair«, fuhr Miss
Campbell fort, »hätten wir ihn am Abend des 2. August
am Horizont der ›Corryvrekan‹ gewiß wahrnehmen kön-
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nen, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht durch eine gewisse
Rettung abgelenkt worden wäre, an der . . .«
»Wie, Miss Campbell«, fiel ihr Olivier Sinclair ins Wort,
»ich wäre der Unglücksvogel gewesen, der Ihre Augen in
einem so entscheidenden Moment abgelenkt hätte? Meine
Unbesonnenheit hätte Sie den Grünen Strahl gekostet?
Dann bin ich ja Ihnen schuldig, um Verzeihung zu bitten,
und das tue ich hiermit unter größtem Bedauern meines
ungeschickten Dazwischentretens. Das soll mir nicht wie-
der vorkommen!«
Man plauderte noch von dem und jenem auf dem Rück-
weg zum Caledonian-Hotel, in dem auch Olivier Sinclair
nach Beendigung eines Ausflugs in die Umgebung von Dal-
maly abgestiegen war. Der junge Mann, dessen freimütiges
Wesen und mitteilsame Heiterkeit den beiden Brüdern kei-
neswegs mißfiel, wurde gelegentlich veranlaßt, von Edin-
burgh und seinem Onkel, dem Oberrichter Patrick Oldimer,
zu sprechen. Da stellte sich heraus, daß die Brüder Melvill
mit dem Oberrichter Oldimer mehrere Jahre bekannt ge-
wesen waren. Zwischen den beiden Familien bestand da-
mals ein ziemlich vertraulicher Verkehr, den nur die spä-
tere örtliche Trennung unterbrochen hatte. Man war also
eigentlich schon miteinander bekannt, und Olivier Sinclair
wurde von den Brüdern Melvill aufgefordert, diese Verbin-
dung fortzusetzen. Da er nun keinerlei Ursache hatte, sein
Künstlerzelt anderswo als in Oban aufzuschlagen, erklärte
er sich mehr denn je zuvor entschlossen, hier zu bleiben,
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um an den Nachforschungen nach dem Grünen Strahl teil-
zunehmen.
Miss Campbell, die Brüder Melvill und er begegneten
sich während der folgenden Tage häufig am Strand von
Oban. Sie prüften zusammen, ob der Zustand der Atmo-
sphäre sich nicht endlich günstiger gestaltete. Zehnmal am
Tag wurde das Barometer befragt, das manchmal einige
Neigung zu steigen bemerken ließ. In der Tat überschritt
das liebenswürdige Instrument am Morgen des 14. August
37,7 Zoll.
Mit welcher Befriedigung überbrachte Olivier Sinclair
an diesem Tag Miss Campbell die freudige Nachricht! Ein
Himmel so klar wie das Auge einer Madonna; ein Azur, der
nach und nach alle Schattierungen zwischen Indigo und
Ultramarin durchlief. Nicht eine Spur hygrometrischen
Dunsts in der Luft, die Aussicht auf einen herrlichen Abend
und einen Sonnenuntergang, der jeden Astronomen einer
Sternwarte entzückt hätte.
»Wenn wir bei Sonnenuntergang unsern Grünen Strahl
heute nicht sehen«, behauptete Olivier Sinclair, »dann müß-
ten wir eben blind sein.«
»Ihr hört, liebe Onkel«, sagte Miss Campbell, »es gilt
heute abend!«
Man kam also dahin überein, vor dem Abendessen auf
die Insel Seil zu fahren, und das geschah gegen 5 Uhr.
Auf der pittoresken Straße von Glachan führte die Ka-
lesche Miss Campbell dahin, die vor Freude strahlte, Oli-
vier Sinclair, der diese Strahlen widerspiegelte, und die Brü-
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der Melvill, die auch ihren Teil von diesem Glanz abfingen.
Man hätte wahrlich sagen können, sie hätten die Sonne bei
sich auf einem Wagensitz, und die vier Pferde des eleganten
Gefährts wären die Hippogryphe des Wagens Apollos, des
Tagesgottes.
Auf der Insel Seil befanden sich die schon vorher be-
geisterten Beobachter gegenüber einem Horizont, dessen
scharfe Linien kein Hindernis unterbrach. Sie nahmen auf
der äußersten Spitze eines schmalen Vorgebirges Platz, das
zwei Einbuchtungen des Gestades trennte und 1 Meile weit
ins Meer hinausragte. Hier konnte nach Westen und
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