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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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einmal mehr in die Augen sehen. In Brüssel wurden wir spätabends von der Polizei angehalten.
    »Warum fahren Sie nicht mit Abblendlicht?«
    Papa sagte nicht, dass seine Vergesslichkeit eine Folge unserer Wortgefechte war. Er verlor nicht die Selbstbeherrschung, doch die innere Ruhe verflüchtigte sich allmählich. Mama zog es in der Regel vor, sich nicht einzumischen, doch wenn ich es bis zum Äußersten trieb, versuchte sie, diplomatisch das Thema zu wechseln.
    MAMA Wollen wir nicht lieber mal eine Toilette suchen?
    Aber nachdem wir an der nächsten Tankstelle eine Toilette mit klassischer Musik gefunden hatten, flammte der Streit erneut auf. Vater vertrat einen Standpunkt, der für mich völlig absurd war: in der UdSSR gebe es mehr Freiheit als im Westen und die Lebensqualität sei nicht schlechter als in Europa. Mich machte es rasend, dass er zwar in unserem Land »einzelne Mängel« einräumte, aber nicht wollte, dass ich »verallgemeinerte« (das war ein Schlüsselbegriff bei unseren Meinungsverschiedenheiten), und noch weniger, dass ich sein Teuerstes »antastete« – Lenin. Amsterdam mit seinen Kanälen versöhnte uns ein Wochenende lang, aber in Paris ging ich unter Missachtung jeglichen Anstands von Worten zu Taten über. Ich legte mir anrüchige Bekanntschaften zu, die Rechten und die Linken vermischend: Ich ging zu alten Emigranten, zu den Nichtrückkehrern, den Verrätern und Renegaten wie dem Dostojewski-Forscher Pierre Pascal, mit Hilfe von Maurice Druon traf ich Gabriel Marcel, andererseits fühlte ich mich, gelangweilt von der alltäglichen Bürgerlichkeit Europas, von seinen kleinlichen Bäckern und der politischen Rhetorik der herrschenden Klassen, zu den Studenten hingezogen, die 1968 auf den Pariser Barrikaden gekämpft hatten, nicht zuletzt zu den künstlerischen Revolutionärinnen Jacqueline und Véronique, zwei leidenschaftlichen Lesben, die lange Zeit wegen des Scheiterns der Revolution in Schwarz gingen (aber in Vorwegnahme der heutigen Mode mit nacktem Bauchnabel). Mit den Revolutionärinnen wäre ich weit gegangen, bis hin zum Maoismus, ich besann mich jedoch kurz davor, da ich spürte, dass mir wieder nur das weise Bild Stalins begegnen würde: Sei gegrüßt! Da ging ich zu dem harmlosen Druon zum Frühstück in dessen Wohnung auf dem Gelände des Rodin-Museums. Er hatte einen bemerkenswerten Hund, der auf den Namen Poupée hörte. Druon erzählte mir, dass Poupée bei Pompidous Hund gefrühstückt habe. Wir rauchten Zigarren.
    Dank Druon bin ich im Bauch gewesen – nicht von Paris, sondern des Kremls. Als Dostojewskis 150 . Geburtstag gefeiert wurde, kam Maurice Druon, der zukünftige Kulturminister Frankreichs, mit seiner Gattin – » mon bijou « – nach Moskau. Der ehemalige Häftling Sutschkow, zu der Zeit Direktor des Instituts für Weltliteratur, in dem die Hauptbeschäftigung der wissenschaftlichen Mitarbeiter darin bestand, sich vor Denunzianten zu fürchten, beauftragte mich mit der Betreuung von Druon. Alles war sehr nett bis zu dem Zeitpunkt, wo man mich als Simultandolmetscher auszubeuten begann – das war die reine Folter. Als ich erfuhr, dass Druon zum Mittagessen bei der Furzewa eingeladen war, wurde mir klar, dass ich mich vollkommen und endgültig blamieren würde. Es ergab sich jedoch, dass nicht ich mich blamierte. Unter der Fahne des französischen Botschafters Seydoux fuhren wir in den Kreml ein (mir rutschte vor Angst das Herz in die Hose) und gingen zur Furzewa essen.
    Die Furzewa – merkwürdig, dass man ihr kein Denkmal errichtet hat – war eine historische Frau. Sie bewahrte Chruschtschow vor einer Niederlage in einer innerparteilichen Auseinandersetzung mit Molotow und erreichte, dass sowjetische Frauen ungestraft abtreiben durften. Klein, energisch, glatt gekämmt, empfing sie Druon freundlich und charmant. Mich maß sie mit einem ziemlich langen, prüfenden Blick ohne jedes Protokoll. Maja Plissezkaja und Vaters Freund Dubinin waren auch dabei.
    »Ich sehe, du trittst in die Fußstapfen deines Vaters.«
    »Leider, leider!«
    Kleinmütig jammerte ich ihm vor, dass ich vermutlich ein Fiasko erleben würde, aber er reagierte nur mit ungerührtem Gesichtsausdruck, als hätte ich ihn gebeten, an meiner Stelle zu dolmetschen. Vor dem Mittagessen ließen sich alle zusammen fotografieren. Interessant, wo dieses Foto wohl abgeblieben ist? Der Fotograf war ein kleiner Mann mit erkennbar jüdischen Gesichtszügen.
    »Wissen Sie, wer das ist?«, fragte die

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