Der gute Stalin
solle das unterlassen. Die Zeit verging. Ich wusste, wenn ich das Kapitel über die Grundlagen der kanadischen Literatur nicht pünktlich abgebe, werfen sie mich wieder aus dem Institut, diesmal allerdings wegen beruflicher Unfähigkeit. Bis zur Besprechung meiner Arbeit am Institut waren es noch zwei Wochen, und ich hatte bisher keinen Strich getan. Ich ging wieder in die Bibliothek, nahm eine kanadische Enzyklopädie aus dem Regal. Über Literatur gab es da nur ganz wenig: eine Aufzählung von Namen mit Lebensdaten. Vor lauter Verzweiflung schrieb ich das alles in mein Heft ab. Daraus ergab sich gar nichts. Ich ging nach Hause und gestand mir meine Niederlage ein. Danach setzte ich mich an die Schreibmaschine (nicht mehr meine Erika) und begann zu schreiben; flamboyant erdichtete ich Biografien kanadischer Schriftsteller, deren Dispute, beißende kritische Rezensionen, religiöse Konflikte, den Kampf um das Entstehen einer Nationalliteratur und vor allem Romansujets. Ich dachte sie mir aus, eins nach dem andern, ich erfand die Charaktere der Romanhelden. Die Sujets drehten sich in getarnter Form um die Metropol -Geschichte, verflochten mit Liebesintrigen. Nachdem ich meine wissenschaftliche Arbeit in vier Exemplaren getippt hatte, verteilte ich das Manuskript an meine gelehrten Kollegen zur Rezension und erwartete die Diskussion, zu der eine Dame aus der Universität eingeladen war, die einzige Spezialistin für kanadische Literatur in der UdSSR .
Bei der Diskussion erwartete mich eine Überraschung. Meine Philologenkollegen erklärten mir, sie hätten zugegebenermaßen niemals gedacht, dass die kanadische Literatur so markant, ausdrucksstark und vielgestaltig sei. Die Dame bestätigte meine Kompetenz und gab noch einige wertvolle Hinweise. Seitdem habe ich die ganze kanadische Literatur von A bis Z erfunden. Kein wahres Wort. Sie wurde in einer akademischen Ausgabe gedruckt. Ich empfand mich als Stalin der kanadischen Literatur, der eine literaturhistorische Fiktion erschaffen hatte. Davon hatte ich mich letzten Endes hinreißen lassen. Das war meine Rache – an wem, wofür? Wahrscheinlich an der Literaturwissenschaft. Die Geschichte jeder Literatur ist eine Fiktion, denn die Literatur, wenn man überhaupt darüber als Gegenstand sprechen kann, existiert außerhalb des Rahmens nicht nur der Geschichte, sondern auch der Glaubhaftigkeit. 1994 , auf einem Autorenfestival in Toronto, legte ich öffentlich vor den Kanadiern die Beichte ab. Die Kanadier johlten vor Begeisterung und verlangten Einzelheiten. Ich gestand reinen Herzens, dass ich mich weder an meine erfundene Geschichte insgesamt noch an die realen Namen erinnern könne. Diese Amnesie erschien mir als Krönung der Mystifizierung.
*
Das Hauptopfer von Metropol war mein Vater. An einem späten Januarabend in ihrer Residenz in Wien, als Mutter nach ihrer Gewohnheit vor dem Einschlafen im Bett las, kam Vater ins Schlafzimmer, reichte ihr eine druckfrische Ausgabe von Le Monde und sagte mit heiserer Stimme:
»Lies das. Hier ist etwas, das dich interessieren wird.«
Sie las es und erstarrte. Daniel Verné, der Moskauer Korrespondent der Zeitung, schrieb über den drohenden Skandal um Metropol .
»La suite dépend de l’Union des écrivains«, endete der Artikel. »Passera-t-elle l’éponge sur une petite incartade, ou choisira-t-elle le scandale en prenant des sanctions contre des écrivains dont le seul tort est de voulouir publier ce qu’ils écrivent?«
»Man wird uns abberufen?« Mama hob den Blick zu Vater, der sich auf den Bettrand gesetzt hatte.
»Alles ist möglich«, nickte Vater. »Aber die Operation solltest du besser hier machen lassen.«
Bei Mama hatten die Ärzte Verdacht auf Brustkrebs diagnostiziert.
»Ich bin hier für Sie die Sowjetmacht und Genosse Stalin zusammen«, sagte einmal ein sowjetischer Botschafter zu seinen Untergebenen, und dieses mot wurde zum Symbol für die sowjetische Diplomatie. Habe ich meinen Vater als verhassten »Genossen Stalin« gesehen? Habe ich Metropol initiiert, um durch einen Riesenskandal endlich von ihm gehört zu werden, ihm zu erklären, dass er politisch auf dem Holzweg war und kein Recht hatte, bei all seinem Botschaftsluxus, seinen großartigen Gesten, all den Leuten, Mitarbeitern, Chauffeuren und Dienstboten, die abhängig von ihm waren, in mir nur einen zufälligen »Schreiberling« zu sehen? Warf ich – wie bei einem großen Krach Tintenfässchen, Vasen und Geschirr fliegen – mit meinen
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