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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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jung gestorben …), steht man am Schluss immer vor den Auslassungspunkten des Todes. Die Spaziergänge über den Wagankowo-Friedhof sind nicht umsonst.
    *
    Ich sah meinen Vater fast jeden Abend in seiner großen Wohnung auf der Gorki-Straße. Nachdem ich im engen Flur meinen Mantel abgelegt und die Winterstiefel gegen die traditionellen Schlappen getauscht hatte, ging ich durch den Vorraum, der mit afrikanischen Masken voll gehängt war, die Vater im Senegal gesammelt hatte, geradewegs in die gelbe Küche mit der stilvollen französischen Ausstattung. Er konnte noch nie kochen, sich nicht einmal ein Spiegelei zum Frühstück braten, er war absolut hilflos ohne Mutter und auch ohne Klawa, die wir in unsere Angelegenheiten nicht einweihen wollten. Ich schälte Kartoffeln und machte frites , Salat mit Tomaten, heiße Würstchen, und wir setzten uns zum Essen an den runden Tisch im Wohnzimmer. Anschließend tranken wir Tee, dazu gab es sein geliebtes Schaumgebäck mit Schokoglasur.
    Die Sachen im Zimmer – die Sessel, die Bilder, die Anrichte – sahen jetzt irgendwie anders aus: fremd und krank. Nicht einmal die grelle Deckenlampe konnte sie aufhellen und beleben. Ich will nicht behaupten, dass Vater mich unter Druck setzte und mich drängte, den Brief zu schreiben. Das tat er nicht. Er dachte sich irgendwelche Zwischenlösungen aus, aber sie fielen alle flach, eine nach der anderen, denn sie passten keinem von uns. Der Skandal weitete sich aus. Über Metropol wurde viel im ausländischen Rundfunk und der Presse berichtet. In der Zeitung Moskowski literator erschienen streng ausgewählte, extrem feindselige, hysterische Meinungsäußerungen von sowjetischen Schriftstellern über Metropol . Der Almanach wurde offiziell zu »Pornografie des Geistes« erklärt. Unter den Hetze betreibenden Schriftstellern entdeckte Vater nach genauerer Lektüre der Zeitung fassungslos auch alte Bekannte.
    Ich wartete auf die Auflösung des Knotens und fürchtete sie zugleich, um ehrlich zu sein. Wenn Vater nun sagt, dass es trotz allem sein muss? Ihm zuliebe, Mutter zuliebe, der Rettung unserer Familie zuliebe. Schau nur, wie seine Hände zittern, wie alt er geworden ist!, sagte ich mir. Wer steht dir näher: er oder die »Stimme Amerikas«? Er hat dir doch im Leben nur Gutes getan. Ich glaubte nicht an Wunder. Ich hatte das Beispiel Simonow vor Augen. Es gab noch andere, nicht weniger niederträchtige Beispiele. Vaters Freunde zogen sich zurück. In seiner Wohnung rief bereits keiner von ihnen mehr an. Jedes Telefonklingeln rief Aufregung hervor. Und was für Abendgesellschaften es hier gegeben hatte! Was für Essen hier aufgetischt worden war …! Alles zerstört. Verbrannte Erde. Darin bestand der Unterschied zwischen uns: Denn ich wurde ja angerufen, ich wurde von vielen Leuten unterstützt. Mehr noch, wir trafen uns im engen metropolschen Kreis und zogen von Wohnung zu Wohnung, wir machten viele Witze, der eine aus jugendlichem Leichtsinn, der andere aus Verzweiflung, und ich habe wohl in jenem Jahr den meisten Sekt in meinem Leben getrunken – wir ersäuften unsere Probleme mit Sekt von unserm letzten Geld.
    *
    Am vierzigsten Tag nach Vaters Ankunft in Moskau lud er mich wieder zum Abendessen ein. Ich fand ihn mit verlangsamten Bewegungen und dermaßen blass vor, dass ich innerlich aufheulte vor Mitleid. Er schwieg sich lange aus, während er eines unserer rituellen Würstchen kaute. Endlich sagte er:
    »In unserer Familie gibt es schon eine Leiche. Das bin ich.«
    Ich schwieg, sah ihn genau an und versuchte zu verstehen, worauf er hinauswollte. Mechanisch legte er die Stoffserviette zusammen und faltete sie wieder auseinander.
    »Wenn du den Brief schreibst«, fügte Vater hinzu, »dann haben wir zwei Leichen in der Familie.«
    *
    Es gibt im Leben eines Schriftstellers Momente, wo man Dinge tut, deren Folgen nicht abzusehen sind. Nach dem Motto: alles auf eine Karte setzen. Entweder wandelt sich das Leben und nimmt die Form eines Künstlerschicksals an, es muss nicht unbedingt glücklich werden, vielleicht wird es sogar schrecklich – aber immerhin ist es ein Schicksal. Oder aber man verspielt alles. Und wenn man gar nichts einsetzt, dann kommt auch kein Schriftsteller heraus. Diese Rolle spielte Metropol in meinem Leben – der Flug in den Abgrund … gleich, gleich werde ich zerschellen! Und dann die glückliche, beinahe wunderbare Erlösung, dank dem Opfer meines Vaters.
    Nachdem ich meinen Vater politisch ermordet hatte,

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