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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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vollkommen erschlagen nach all diesen Gesprächen nach Hause kam, ich erkannte ihn nicht wieder. Wahrscheinlich erfuhr er nun am eigenen Leib, was es hieß, sich gegen das Regime zu stellen, dem er treu und ehrlich gedient hatte. Mir schien, er würde den Zusammenbruch seiner Karriere nicht überleben. Bevor wir zu reden begannen, trug Vater das Telefon ins andere Zimmer und versteckte es unter einem Kissen, er bat mich, leise zu sprechen, benutzte hin und wieder sogar französische Wörter: Er wollte nicht, dass seine Regierung uns abhörte.
    Andererseits konnte ich meine Freunde nicht verraten. Ich, der Anstifter dieses ganzen Vorhabens, der große Verführer mit dem ironischen Lächeln auf den dicken Lippen – ich sollte plötzlich kapitulieren? Um nichts auf der Welt! Nur über meine Leiche! Dann lieber nicht mehr weiterleben! Ich konnte mir nur zu gut die Gesichter von Freunden und Feinden vorstellen:
    »Na, du Diplomatensöhnchen, hast wohl die Hosen voll?«
    Mein Reuebrief hätte nicht nur das Ende unserer Sache bedeutet, nicht nur meine ewige Schande: Ich wusste aus der Erfahrung der sowjetischen Schriftsteller, dass diejenigen, die der KGB gebrochen hatte, nie wieder schreiben konnten. Aber in solchen Fällen bleibt man immer allein: Als meine Metropol -Freunde von meiner Lage erfuhren, nahmen sie eher eine Beobachterposition ein. Sie gaben mir keinen Rat. Sie schwiegen einfach. Dafür sagten die politischen Dissidenten zu mir:
    »Wenn du dich schon aus dem Schützengraben wagst, dann musst du auch vorauslaufen.«
    Aber ich wollte kein Soldat mit Helm und aufgepflanztem Gewehr sein. Ich wollte eine Schildkröte sein, die zum Meer krabbelt. Das Ganze ging so weit, dass meine Frau Wiesława Angst bekam, unseren Sohn in den Kindergarten gehen zu lassen; wir hielten es für möglich, dass der KGB ihn entführte, um uns zu erpressen. Metropol verwandelte sich in ein manövrierunfähiges Schiff. Wenn ich mir ansah, wie sich die Emotionen immer weiter aufheizten, fielen mir mal die Saporoger Kosaken ein, die dem Sultan einen Brief schreiben, mal ein Zigeunerlager (oft schliefen wir bei irgendwem auf dem Fußboden, im Bad, unter dem Küchentisch, angezogen, ausgezogen, wie es gerade kam), mal Arthur Rimbauds Bateau ivre . Der gemäßigte Teil der Mannschaft versuchte, dem Schlag auszuweichen, aber der radikalere, kämpferisch eingestellte – diejenigen, die nichts zu verlieren hatten als ihre Ketten – war bereit, die »Helme« aufzusetzen. Ich watete bis zum Knie in Kondensmilch. Niemand jedoch, nicht ein Einziger von uns kapitulierte oder verriet Metropol . In diesem Zusammenhang sagte Semjon Lipkin folgende ermutigende Worte:
    »In der Geschichte der Sowjetunion haben nur die Marinesoldaten, die 1921 am antikommunistischen Aufstand in Kronstadt beteiligt waren, sich nicht in die Knie zwingen lassen, nicht kapituliert, und sie wurden erschossen – alle anderen Protestaktionen konnten unterdrückt und den Untersuchungshäftlingen Schuldbekenntnisse abgepresst werden.«
    Das ist wohl etwas schwülstig geraten. Ich habe nicht mitgeschrieben und kann seine Formulierung nicht wörtlich wiedergeben. Ich versuche es noch einmal und appelliere an den poetischen Kern seiner Worte. Also, Semjon Lipkin sagte folgende ermutigende Worte:
    »Seit dem Aufstand von Kronstadt 1921 hat es keine einzige kollektive Aktion einer Opposition gegeben, die die Sowjetmacht nicht in Kapitulation, Verrat oder Blamage getrieben hätte.«
    Schon besser (wenn auch nicht viel). Schade, dass die »Marinesoldaten« verschwunden sind. Wie dem auch sei, Metropol hielt durch. Darauf kann man stolz sein. Alle namentlich nennen. Die Lebenden und die schon Toten. Ich mache in diesem Buch keine Unterscheidung – die handelnden Figuren sind unsterblich. Als die Staatsmacht Lipkin mit dem »Sekretariat« einschüchtern wollte, sagte er:
    »Ich werde bald«, und es war seinen Augen anzusehen, »vor einem ganz anderen Sekretariat erscheinen.«
    Er lebte noch viele Jahre. Eine Schweigeminute. Boris Wachtin, Wladimir Wyssozki, Juri Karabtschijewski, Heinrich Sapgir, Friedrich Gorenstein, Semjon Lipkin …
    Die Geschichte literarischer Almanache in Russland – das ist die Verwüstung von Autorennestern. Wer war der Erste? Wer wird der Letzte sein? Interessante Statistik. Die Toten verdrängen die Lebenden. Wenn man sich an einer kollektiven Aktion beteiligt (selbst wenn man bei einem Gruppenfoto mitmacht: da ist Sascha Simonowa … sie ist schon tot …

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