Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
Vom Netzwerk:
uns lange warten, bevor man uns aufforderte hereinzukommen, allerdings nicht zusammen, sondern einzeln. Als Erster ging Popow: Als Mann aus dem Volke, als Sibirier konnte er angeblich die Situation in gewisser Weise entschärfen. Schwer zu sagen, ob das Ergebnis so vorher geplant gewesen war. Vielleicht hatten sie von oben erst eine und dann eine andere Anweisung erhalten. Das Ganze spielte sich buchstäblich am Tag vor dem Einmarsch in Afghanistan ab, und die Oberen hatten liberale »Entspannung« nicht mehr nötig. Jedenfalls muss irgendwer in den »höchsten Sphären« gewesen sein. Vermutlich Kusnezow, denn er eröffnete die Versammlung mit einer zündenden Rede gegen Metropol .
    Sie saßen an einem langen Tisch und fuchtelten empört mit den Armen: Es sah aus wie ein Gewirr von Schlangen. Hinter dem Tisch des Vorsitzenden – Sergej Michalkow und Juri Bondarew. Bondarew sagte kein Wort, aber seine Entrüstung drückte er durch pathetische Mimik und Gestik aus – mal griff er sich an die Stirn, mal streckte er die Arme in die Luft. Valentin Rasputin, den Popow kannte, ging mittendrin zu einer anderen Sitzung. Michalkow heuchelte Gerechtigkeit und Leidenschaftslosigkeit. Als alle zu schreien begannen: »Wir haben ihnen genug zugehört!«, wandte er ein:
    »Nein, Genossen, wir müssen uns mit allem richtig auseinander setzen.«
    Dass man uns einzeln vorsprechen ließ, hatte überhaupt keine Bedeutung. Wir lachten nachher, denn wir hatten absolut gleiche Antworten gegeben. Sie wollten alles auf Axjonow schieben. Wer hat Sie zu diesem Unternehmen angespitzt? Popow sagte, er sei dreiunddreißig und er könne selbst die Verantwortung für sein Handeln tragen:
    »Ich bin doch kein Bleistift, den man anspitzt.«
    Wir hatten verabredet, dass Shenja mir beim Herauskommen ein Zeichen geben würde, wie es war: gut, soso oder schlecht … Popow kam raus und winkte nur ab. Mich fragten sie sofort: »Meinen Sie, dass Sie sich an einer antisowjetischen Aktion beteiligt haben?«
    Es war nicht schwierig zu begreifen, woran hier gestrickt wurde: Beteiligung an einer antisowjetischen Aktion – das lief auf Paragraf 70 des Strafgesetzbuches der RSFSR hinaus (fünf bis sieben Jahre Gefängnis unter erschwerten Bedingungen) und nicht auf Wiederaufnahme in den Schriftstellerverband. Kusnezow sagte:
    »Wie konnten Sie, der Sie über alle möglichen Sartres schreiben, nicht begreifen, dass man Sie als Steinchen in einem großen politischen Spiel benutzt!«
    Ganz anders benahmen sich Rassul Gamsatow, Mustai Karim und David Kugultinow. Einmal stand Gamsatow auf und sagte zu Popow:
    »Gut geantwortet, Junge! Nehmen wir sie auf, und basta!«
    Als Popow herauskam, folgte ihm Karim und sagte:
    »Alles richtig, was ihr gesagt habt, aber wem sagt ihr das?«
    Nach der Sitzung kam der eine oder andere zu uns und drückte uns die Hand. Später erfuhr ich, dass der Beschluss einstimmig war. Es gab eine lange Pause. Sie berieten. Wir saßen auf dem Flur. Es wurde bereits dunkel. Dann rief man uns zusammen auf. Wir standen vor dem Saal, links von Michalkow. Wieder bewegten sich die Schlangen. Ein gewisser Schundik verlas den Beschluss. Er wurde präsentiert in der Fassung von Daniil Granin, der seit der Perestroika das »Gewissen Russlands« ist. Die Fassung war eindeutig: Ausschluss aus dem Schriftstellerverband bis auf weiteres. Die junge, hoch gewachsene Sekretärin, die an einem seitlich stehenden Tisch die Versammlung protokollierte, sah uns mitleidig an. In ihren Augen standen echte Tränen. Sie glaubte wahrscheinlich, dass man Popow und mich direkt aus dem Saal nach Sibirien verfrachten würde. Ich lächelte ihr zu. Als alle schon auseinander gegangen waren, flüsterte Michalkow uns zu:
    »Jungs, ich habe alles getan, was ich konnte, aber gegen mich waren vierzig Leute.«
    Vielleicht war er diesmal ja wirklich nicht der schlimmste Aufhetzer gewesen?
    All das geschah zwei Tage vor Stalins hundertstem Geburtstag.
    *
    »Auf die Weise hat der Schriftstellerverband den Geburtstag des Vaters aller Völker gefeiert«, sagte ich spöttisch zu Craig Whitney, dem damaligen Moskauer Korrespondenten der New York Times , der an der Tür des Schriftstellerverbands auf der Lauer lag. Craig begann, etwas auf seinem schmalen Block zu notieren.
    »Jetzt bin ich, nach ihren Maßstäben jedenfalls, ein ›ehemaliger‹ Schriftsteller«, sagte Popow. »Gehen wir darauf einen trinken.«
    »Und Ihre Freunde?«, fragte Craig. Er trug eine russische Mütze. Sein Atem

Weitere Kostenlose Bücher