Der gute Stalin
derselben Gleichgültigkeit, mit der man die Botschafter in der ganzen Welt per Brief, Telefonanruf oder allzu lang anhaltendem Schweigen vor die Tür setzte, Vater in Pension zu schicken. Solche Sprünge der Geschichte wollten jedenfalls nicht in meinen Kopf.
Ich neigte eher zu anderen Überlegungen: Das größte Paradoxon der russischen Geschichte, dachte ich, besteht darin, dass Stalin trotz allem in der Geschichte Russlands ein positiver Volksheld bleiben wird. Die Liebe zu Stalin ist der Indikator für die Archaik des russischen Volkes. Und wirklich: In den neunziger Jahren ist man, ungeachtet aller Entlarvungen, nicht mit ihm fertig geworden. Er hat überlebt. Auf seiner Seite ist der Traum.
Zu diesen Gedanken muss ich nun wieder zurückkehren. Anfang des 21 . Jahrhunderts – wer winkt uns da von weitem freundlich zu?
Alles Schlechte an Vater kam von der Diplomatie, aber er gab mir die Möglichkeit, das Zyklische der russischen Geschichte zu erkennen. Die Straflosigkeit Stalins ist absolut. Was bedeutet dieses Absolute? Russland war bereit, Stalin in sich aufzunehmen, doch letzten Endes wurde es nicht fertig mit dieser Aufgabe und blamierte sich ein wenig, und er entfernte sich von den Russen, um verkehrt verstanden zu werden.
Stalin ist heute Machtkult, Sehnsucht nach dem Imperium, nach Ordnung, Respekt vor Grausamkeit und Verrat. Stalin – das ist die Entstehung einer neuen Angst. In jedem Vorgesetzten in Russland steckt ein kleiner Stalin. Auch ich spüre Stalin in mir. Er wälzt sich schlaflos in meinem Bewusstsein hin und her. Mein Stalin ist ein großer Künstler des Lebens. Er winkt mit der rechten Hand – und die Tschetschenen verlassen den Kaukasus. Er winkt mit der linken Hand – halb Europa baut den Sozialismus auf. Man möchte meinen, Stalin hat die Zukunft eines neuen Napoleons. Man möchte meinen, Stalin ist der Höhepunkt des Antidemokratismus der Russen und ihrer antieuropäischen Werte, des »Breis in ihrem Hirn«. Die Hälfte des heutigen Russlands sieht Stalin nicht als Bösewicht, und das ist nicht zufällig. Stalin ist nach russischem Schnittmuster gemacht. Die Kinder strecken ihre Händchen nach ihm aus: Papa! Papa!
Wie das? Wo doch die Russen ein verächtliches Verhältnis zu »Bastarden« haben und sie nicht als die Ihren akzeptieren. Ihn aber haben sie nicht nur akzeptiert, sondern sich vor ihm zu Boden geworfen. Stalin war in Wirklichkeit ein ungebildeter, beschränkter Mensch, verschlossen und nachtragend. Da sitzt er und schneidet Bilder aus der Zeitschrift Ogonjok aus. Eine seltsame Vermutung rührt sich in mir: Das ist Konspiration. Wozu in vollem Glanz erscheinen? Der Glanz dringt sowieso mit seinen Strahlen durch diese Bilder. Und die Garderobe? Zwei Uniformjacken, eine für festliche Anlässe und eine für jeden Tag, ein paar Stiefel. Nach seinem Tod waren alle verblüfft über die Dürftigkeit seiner Garderobe. Auch das – Konspiration. Und seine Nationalität – umso mehr.
In der russischen Literatur existieren Dutzende von Stalin-Bildern: der Tyrann, der Sadist, das Genie, der Witzbold, der Führer, der Perverse, der Sieger.
Wer war er in Wirklichkeit?
Die russische Literatur ist mit Stalin nicht fertig geworden. Sie verwandelte den Generalissimus in einen Henker, den Henker in einen Generalissimus. Sie drehte und wendete das Bild ohne jeden Sinn. Sie bemerkte nicht, dass Stalin dem russischen Volk erschien wie Jesus Jossifowitsch. Nur kam Jossif Wissarionowitsch zu einem anderen erwählten Volk – nannte sich Gottesträger – heiße den Gast willkommen! – damit der Gast für immer beim Volk bleibe. Russland ist eines guten Stalin würdig.
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Und Vater? Für würdig befunden, zu den jungen Schülern zu gehören, vorgemerkt und vielleicht sogar geliebt vom alles sehenden Auge:
»Schenkt ihm Champagner ein!«
Ein Held sollte man nicht länger als drei Tage sein, so wie Gast in einer anständigen Familie, denn danach fault und stinkt das Heldentum wie alter Fisch. Aber mein arbeitsloser Vater hielt sich weiterhin großartig, er verurteilte mich kein einziges Mal, ungeachtet aller Umstände. Mama verurteilte mich auch nicht, obwohl sie mehr als einmal murrte. Von meiner Frau bekam ich das Wort »Unglücksrabe« zu hören, aber dann nahm sie es wieder zurück. Pan Zygmunt schlug mir vor, nach Polen zu ziehen und dort eine Würstchenbude aufzumachen. Mit der Metropol -Bruderschaft war es vorbei. Für mich endete sie in einer blutigen Schlägerei mit Bitow,
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