Der gute Stalin
Strommast bei unserer Datscha. Ich erlebte eine so starke Erschütterung, dass ich mich in Paris lange unter Tränen vor dem Besuch von Napoleons Grabmal im Invalidendom drückte, denn ich befürchtete, er sei ebenfalls in einem offenen Sarg ausgestellt.
»Wie hast du dir den Kommunismus konkret vorgestellt?«
Vater schwieg eine Weile.
»Wir haben daran geglaubt, dass das die beste Form der Organisation des menschlichen Lebens ist. Die gerechteste. Basierend auf Prinzipien, die von der Menschheit und sogar von den Religionen anerkannt werden.«
Mit der Religion hat sich Vater immer schon schwer getan. Er hat niemals einen Fuß in eine orthodoxe Kirche gesetzt, nicht einmal, wenn es sich um ein Kulturdenkmal handelte. Ich sehe ihn in Peredelkino, nicht weit von der Kirchenvorhalle, in der Kälte stehen, im Licht der Kuppeln, schniefend, in dem Mantel mit Persianerkragen und hoher Persianermütze. Er unterhält sich mit einem Freund, dem lebenslustigen Guberman (der alle mit seinem Selbstmord überraschte; er hängte sich an der Tür auf). Übrigens ist Vater nie Antisemit gewesen, er hat sich niemals erlaubt, Dinge über Juden zu sagen, die die Russen in der Regel bei sich denken. Mama ist aus Neugier in die Kirche hineingegangen, mit ihrer Freundin Jelena Nikolajewna, die Lelik genannt wurde (Lelik ist auch schon tot, in den siebziger Jahren ist sie in Paris am westlichen Überfluss verrückt geworden, und danach war sie lange in Behandlung). Mama durfte hineingehen, aber Vater ging nicht hinein – dies war feindliches Territorium. Bei uns zu Hause galt es als unanständig und peinlich, über Gott zu sprechen.
»Womöglich sagst du mir noch, dass du an Gott glaubst!«, kämpfte Mutter wütend gegen mein verbales Dissidententum an. Sie war die Enkelin eines Geistlichen, der sich extra in irgendeinem entlegenen Dorf verkrochen hatte, um der Familie nicht zu schaden. In den Jahren der Perestroika lockerte Mama, älter geworden, ihre Gottlosigkeit ein wenig, war jedoch überzeugt davon, dass ich und Gott unvereinbar seien.
»Was das für Prinzipien sind?«, setzte Vater unser Gespräch über den Kommunismus fort. »Sorge für den Menschen. Der Mensch über allem. Brüderlichkeit. Freundschaft. Kostenlose medizinische Versorgung. Kostenlose Ausbildung. Der Mensch trägt vor dem Kollektiv die Verantwortung für sein Handeln, für seine Arbeit. Wir sind autoritär erzogen. Wenn einer sich der Ausschweifung ergab, wusste er, dass er sich dafür vor der Parteiversammlung würde verantworten müssen.«
Die meisten aus Vaters Kreisen waren extrem zurückhaltende Leute und dachten nicht im Traum an Ausschweifungen. Molotows erster Referent, Boris Fjodorowitsch Podzerob, pinkelte in seiner Jugend bei einem Rendezvous mit einem Mädchen unauffällig in die Hose, da er sich genierte zuzugeben, dass er auf die Toilette musste. Natürlich gab es auch Ausnahmen. Ein enger Freund meines Vaters, der zappelige und kluge Andrej Michailowitsch Alexandrow, der den Faust auswendig auf Deutsch hersagen konnte und den später (er wurde ein einflussreicher Mitarbeiter Breshnews) die Amerikaner als russischen Kissinger bezeichneten, rezitierte, wenn er bei uns zu Besuch war, nicht nur permanent Goethe, sondern kniff auch lustig unsere Hausmädchen, womit er meine Mutter zur Verzweiflung brachte. Einmal entdeckte ich den russischen Kissinger im geschlossenen Kleiderschrank meines Kinderzimmers, wo er leidenschaftlich seine eigene Frau küsste. Sie winkten mir freundlich zu. Mit noch größerer Leidenschaft schleppten sie mich und meine junge Frau in das prestigeträchtige Haus gegenüber dem zentralen Telegrafenamt, um uns ihre Wohnung, genauer gesagt, ihr Schlafzimmer zu zeigen, in dem eine gute Kopie von Rembrandts Danae hing. Es roch verdächtig nach Gruppensex. Schließlich zeigten sie uns nur ihre Nacktfotos, die sie auf dem antiken Tisch ausbreiteten.
Für Vater galten immer die Worte Bescheidenheit und Disziplin.
»Unser Scheitern hat globale Konsequenzen für die Menschheit«, sagte Vater. »Eine weltweite philosophische Katastrophe. Die Hoffnung ist verloren.«
Ein andermal allerdings, während eines Spaziergangs am Flüsschen Istra bei Moskau, äußerte er sich mit mehr zu ihm passendem Optimismus:
»Die Ideen (die kommunistischen) an sich sind nicht schlecht. Die Erfahrung hat gezeigt, dass wir unter den gegebenen Bedingungen in Russland nicht dazu bereit waren. So wie wir heute nicht zur Demokratie bereit sind. Aber die
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