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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Metamorphosen sind nur durch pures Leiden interessant. Nicht der wahrheitsgetreue Bericht, sondern der Verrat ist seine Heimstatt. Dostojewski gab die Inschrift auf dem Grabstein seiner Mutter dem abgerissenen »Glied« eines seiner nichtsnutzigen Helden:
    »Ruhe sanft, geliebte Asche,
    bis zur freudigen Auferstehung.«
    Was immer er tut, er verliert nur Zeit. Seiner selbst unwürdig, besteht er aus verlorener Zeit. Er ist mit Revolutionären befreundet, er wird zum Einsiedler, er brodelt, er ist ruhig, er steht ständig in der Schuld seiner unverstandenen Eltern, er gießt sich Zärtlichkeit aufs Haupt wie Salböl – all das ist Kindergestammel. Joyce, der das Porträt eines Künstlers in seiner Jugend zeichnete, ließ sich dermaßen hinreißen vom Thema Heiligkeit und Wollust, dass er das Wichtigste vergaß: Der Schriftsteller besitzt weder Wollust noch Heiligkeit. Er ist ein Blatt Papier. Andernfalls haben wir es mit Masturbation ohne Ende zu tun.
    Hastig in einen Doppelgänger verkleidet, martert Bunin den Leser mit endlosen Naturbeschreibungen, die er mit seiner Kindheit verbindet: Millionen von Sonnenuntergängen, Straßen im Schneegestöber, Monden über Feldern. Aber sein wichtigstes Talent ist die detaillierteste Beschreibung von Toten im Sarg. Der Nachbar, der Vater, der Großfürst, das Kind – lauter Tote. Alle Anzeichen der Verwesung: die Farbe der Lippen, der Venen an den Schläfen, der Lider, Hände – alles wird vom Meister der Beobachtung registriert. Aber diese unterhaltsame Nekrophilie – mir nahe durch das Gefühl der Todesangst – endet schließlich in einem totalen autobiografischen Fiasko: Aus dem kleinen Helden, einem bezaubernden lyrischen Jungen, wird ein nervöser, eifersüchtiger junger Mann, der herrisch fordert, dass man ihn für alles liebt, und pathetische Gedichte über ebenjene Natur verfasst. Er predigt Ästhetizismus und ist in Wirklichkeit gleichgültig gegenüber dem Leiden des Volkes. Der Schriftsteller hat sich selbst betrogen.
    Botschafter Winogradow beauftragte Vater, Bunins Witwe aufzusuchen, um ihr das Archiv des Schriftstellers abzukaufen. Vater machte sich furchtlos auf den Weg zu ihrer Wohnung. Sie begegnete ihm mit Argwohn, blickte über das Treppengeländer nach unten und sagte:
    »Ihr Sowjets kommt nie allein.«
    Sie glaubte, Vater hätte Aufpasser im Schlepptau. Als die Witwe ihn endlich in ihre ehemals reiche, von Armut ruinierte Wohnung einließ, erschreckte sie ihn mit den Worten:
    »Bei mir tagt einmal die Woche, immer donnerstags, ein antisowjetisches Komitee!«
    Papa zuckte nicht mit der Wimper.
    »Das, gnädige Frau, geht mich nichts an.«
    Die arme Witwe verkaufte ihm Manuskripte. Papa erwirkte für sie eine lebenslange sowjetische Pension in konvertierbarer Währung. In politischer Hinsicht hielt Vater Bunin für einen »Wirrkopf«: ein weiches, alles rechtfertigendes Wort, wenn es nicht um die eigene Intelligenzija ging. Chagall, Annenkow, Serge Lifar, Larionow und Natalja Gontscharowa – alle diese Emigranten wurden allmählich zu den »Wirrköpfen« gezählt. Schließlich ging es auch um Berdjajew; auch er wurde zum »Wirrkopf«.
    An einem sonnigen Tag in Deauville (wo ich als Neunjähriger zum ersten Mal das Meer und Muscheln gesehen hatte), als wir (ich war schon Student) am Meer spazieren gingen – die Strandflaggen und die Stoffbespannungen der Liegestühle knatterten im Wind, unser Spaziergang erinnerte an Bilder aus einem französischen Film –, sprachen der dicke vitale Wolodin, falscher Botschaftsrat – einer der KGB -Residenten –, und seine bezaubernde Frau, Pianistin am Bolschoi-Theater (Mama wollte sie in Moskau furchtbar gern zu uns nach Hause einladen, doch die Pianistin ließ sich nicht darauf ein; hier gab es eine eigene Hierarchie), über das Berdjajew-Archiv. Er sagte, Moskau sei am Archiv dieses »Wirrkopfs« interessiert. Vater, der nicht eine Zeile von Berdjajew gelesen hatte, nickte. Plötzlich blieb Wolodin stehen.
    »Wenn man uns jetzt überfällt, dann schlage ich mit dem größten Vergnügen zu!«
    In seinen Augen stand der blanke, unverhohlene Hass. Ich blickte mich um und versuchte, potenzielle Angreifer auszumachen. Es war windig und sonnig. Kinder rannten umher. Der Hassausbruch ließ allmählich nach. Wir gingen Mittag essen. Bei Papa kam so etwas nicht vor. Sein Hass drückte sich niemals in physischen Gemeinheiten aus, er bekam höchstens einen entschiedenen Gesichtsausdruck. »Wirrkopf« war indessen ein

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