Der Gute Ton 1950
er ihm zu einer Wahl verhilft, die
er ohne seine Unterstützung niemals getroffen hätte. Es gibt Kunden,
die beeindruckt sind, und ihrer Schüchternheit wegen mit einer
Krawatte aus dem Laden gehen, die sie nie tragen werden. Es war
schwerverkäufliche Ware, die sie nur aus Schwäche kauften. Oder Sie
nehmen, aus Angst zu widersprechen, einen Anzug, der gar nicht ihrer
Grösse entspricht, sie müssen ihn verändern lassen, ohne eine
merkliche Besserung zu erreichen, nur weil der Verkäufer ihnen
einredete, dass sie nie etwas Passenderes finden werden, und dass sie
sich daran gewöhnen sollten, elegant gekleidet zu sein. Diese Taktik ist
falsch, da der Kunde, der sich einmal »überzeugen« liess, den Laden
nie wieder betreten wird. Es ist geschickter, dem Kunden selbst die
Wahl zu überlassen. Man zeigt den gewünschten Artikel, ohne ihn
übermässig zu loben. Jedenfalls soll man den Kunden nicht täuschen,
man lässt den Durchreisenden das Vorrecht, eine Ware zweimal
teuerer zu zahlen, die von jedem abgelehnt war. Höflichkeit im
Geschäftsleben ist überflüssig, wenn sie nicht auf Ehrlichkeit aufgebaut
ist. Sie ist für jedes Unternehmen, das bestehen will, unentbehrlich.
Man soll auch im Geschäftsleben auf fadenscheinige Lügen verzichten.
Warum geben Schneider immer Fristen, von denen sie wissen, dass sie
sie nicht einhalten können? Warum verspricht ein Friseur, dass er in
zehn Minuten zu unserer Verfügung stehen wird, wenn ein einziger
Blick uns überzeugt, dass eine Stunde nicht genügt, um alle wartenden
Kunden, die vor uns kamen, zu bedienen? Warum soll die Ware immer
»morgen« da sein, die heute fehlt, und warum wird das »Morgen« stets
zum »Uebermorgen«?
WIE MAN EINKAUFT...
Man soll die schlechte Behandlung während des Krieges vieler
Geschäftsleute nicht rächen wollen. Sie glaubten, dass ihre Macht ewig
sei. Vielleicht war es ein gewisser Sadismus, uns stundenlang warten
zu lassen: aber das ist keine Entschuldigung für uns, wenn wir jetzt in
ein Geschäft gehen, uns an-rnassend benehmen und schliesslich
erklären, dass in dem Laden gegenüber alles viel besser und billiger
sei. Der Kriegszustand sollte wirklich eines Tages beendet sein.
Es ist gut zu wissen, was man kaufen will, wenn man ein Geschäft
betritt. Es ist nicht nur Rücksicht gegen den Verkäufer, der auch andere
Kunden zu bedienen hat, sondern auch uns selbst gegenüber ein
Beweis, dass wir innerlich ausgeglichen sind. Es ist vielleicht
entzückend naiv, in einer Buchhandlung die Frage, was wir möchten,
mit den Worten »Ein Buch« zu beantworten und — als würde dies alles
erklären hinzufügen: »Es soll ein Geschenk sein«.
Das ist reizend, aber nicht sinnvoll, auch wenn wir das Aussehen
und den Geschmack der Person beschreiben, für die das Geschenk
bestimmt ist. Es interessiert den Buchhändler sicher nicht und
wahrscheinlich hat er auch keine Zeit, sich hineinzudenken. Warum
sagen wir nicht genau, was wir wollen, warum nennen wir nicht den
Preis, den wir anlegen können? Es ist keine Sünde, kein Millionär zu
sein.
Es ist lächerlich sich darüber zu empören, dass der Preis eines Bisam-
Mantels höher ist als der eines Kaninchenmantels. Wenn man etwas
kaufen will, das zu einem anderen Kleidungsstück passen soll, ist es
unnütz, sich allerlei Ware zeigen zu lassen, um nach einer Stunde zu
erklären: »Ich glaube, es ist besser, wenn ich morgen früh mit einem
Muster wiederkomme.« Diesen genialen Gedanken hätten wir früher
haben müssen. Wenn uns nichts gefällt oder alles zu teuer ist, sagen
wir dies lieber offen, als d.ass wir uns in nachdenkliche Ueber-
legungen verlieren, weil wir nicht wissen, wie wir aus dem Laden
kommen sollen. Man muss die Ware prüfen, ehe man sie nimmt, man
soll nicht ein Abendkleid einen Tag später zurückbringen und
behaupten, dass man betrogen wurde, wenn der Betrug in Wirklichkeit
darin bestand, dass man das Kleid einen Abend tragen wollte, um es
dann zurückzubringen. In einem solchen Falle sollte man den
Modesalon davon in Kenntnis setzen, dass man die Absicht hat, das
Kleid einen Abend bewundern zu lassen. Es gibt Geschäfte, die dieses
»Leihsystem« vorgesehen haben.
Ehe ein Herr einen Laden betritt, wirft er seine brennende Zigarette
fort und nimmt an der Tür seinen Hut ab. Diese Manieren scheinen
vielleicht altmodisch, sie sind aber immer noch ein Merkmal des
höflichen Menschen.
V.
WENN DIE UNBEKANNTEN BEKANNT
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