Der Gute Ton 1950
WERDEN
Was tut man nicht, um die Bekanntschaft
eines grossen Mannes zu gewinnen!
J. W. von Goethe
Die Vorstellung kann die Ursache von vielen Freuden und vielen
Unannehmlichkeiten sein. Sie kann der Beginn einer glücklichen
Freundschaft bedeuten, aber ebensogut kann sie uns nur die
Verpflichtung aufbürden, in vitam eternam irgendwelche farblose,
mondäne oder aufdringliche Menschen zu grüssen, so dass wir
jahrelang bitterlich bedauern werden, sie je kennengelernt zu haben.
Unsere einzige Rache wird sein, sie unseren Feinden vorzustellen.
VORSTELLUNGSWUT.
Man begegnet heute weniger häufig jenen »Vorstellungsbesessenen«,
die darauf brennen, mit jedermann bekannt zu werden. Vielleicht
glauben sie, dass es genügt, wenn sie einmal einem Staatspräsidenten
vorgestellt worden sind, um bei dem nächsten Regierungswechsel
Minister zu werden! Es gibt andere, die unbedingt Menschen einander
vorstellen wollen, die wenig geeignet sind, sich zu verstehen. Sie wären
sicher ausgezeichnete Ehestifter geworden, wenn diese Art Menschen
inzwischen nicht beinahe ausgestorben wäre. Wir wollen nicht suchen,
Leuten vorgestellt zu werden, mit denen wir nichts anfangen können.
Sie werden vielleicht später beleidigt sein, wenn wir ihren Namen und
die »unvergesslichen« Umstände vergessen haben, unter denen wir mit
ihnen bekannt wurden.
Früher wurden bei einem grossen Empfang die Namen der Gäste
beim Eintritt in den Salon laut ausgerufen. Heute sind die Gastgeber
eines offiziellen, grossen Balls oder Cocktail-Empfangs nicht mehr
verpflichtet, alle Gäste miteinander bekanntzumachen. Aber diese
Veranstaltungen werden für uns wohl kaum je in Frage kommen. Wir
müssen bei einem Festessen natürlich unsere Gäste einander vorstellen,
und zwar besonders die, von denen wir glauben, dass es gut ist, wenn
sie sich näher kennen.
DIE VORSTELLUNG AUF DER STRASSE.
Es ist heute auf der Strasse oder in einem öffentlichen Gebäude nicht
mehr notwendig, dass wir die Person die uns begleitet, einer Person
vorstellen, die wir treffen und mit der wir einige Worte sprechen
wollen. Wir entschuldigen uns bei unserer Begleitung, die so tut, als ob
sie nicht zu uns gehöre und etwas zurückbleibt. Sie sollte sich jedoch
nicht allzu weit von uns entfernen, denn es könnte uns aus
irgendeinem Grund einfallen, beide miteinander bekanntzumachen. Es
ist nicht rücksichtsvoll, wenn wir unsere Unterhaltung mit dem Dritten
ausdehnen und unsere Begleitung warten lassen, die sicher etwas
unglücklich abseits steht. Einfacher ist es, die Vorstellung gleich zu
machen. Wir sollten nicht zwei Menschen die sich nicht kennen,
minutenlang einander gegenüberstehen lassen, und ganz naiv fragen:
»Ach, Sie kennen sich nicht? Ich hätte meine Hand ins Feuer gelegt,
dass...
WIE STELLEN WIR VOR?
Wenn wir sehen, dass wir zwei Unbekannte einander vorstellen
müssen, sollen wir dies mit Eleganz und Geschick tun. Es gibt hierfür
eine Grundregel:
Man stellt die weniger bedeutende Person der bedeutenderen vor:
man stellt also eine jüngere Person einer älteren, und die mit der
bescheideneren beruflichen Stellung demjenigen vor, der beruflich
höher steht.
Man stellt immer den Herrn der Dame vor — und nicht umgekehrt.
Es gibt eine einzige Ausnahme für diese Regel: Wenn der Herr ein
kirchlicher Würdenträger ist, wird die Dame vorgestellt.
Die Person, der man vorstellt, also die ältere oder die Dame, reicht
die Hand zum Gruss. Man kann sich auch mit einem kleinen Nicken
des Kopfes begnügen, aber dann wirkt die Vorstellung leicht kalt.
Man sagt bei der Vorstellung zuerst den Titel und Namen der
Vorzustellenden und dann den Namen und Titel dessen, dem man
vorstellt, zum Beispiel: Herr Dr. Schmitt : Frau Meier.
Wenn eine Person der Mittelpunkt des Festes ist, ist es natürlich
überflüssig, bei der Vorstellung ihren Namen zu sagen.
Man kann bei der Vorstellung lediglich die Titel und Namen sagen,
aber es ist eleganter und verbindlicher, einige Worte hinzuzufügen,
wie:
Gestatten Sie mir, dass ich Sie bekanntmache: Herr Regierungsrat
Schulz : Herr Oberregierungsrat Meier,
oder
Ich freue mich, dass ich Ihnen Herrn Schmidt
vorstellen darf, von dem ich Ihnen schon so oft gesprochen habe... oder
Gestatten Sie mir, Ihnen jemanden vorzustellen, der Sie sehr
verehrt..
Es ist auch gut, bei der Vorstellung irgendeine charakterisische
Eigenschaft des einen oder anderen zu erwähnen, wie »der
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