Der Gute Ton 1950
Verspätung
erschien. Der Empfang der Gastgeber war natürlich ziemlich kühl, aber
der junge Mann begann die Geschichte seines Unglücks zu erzählen.
Die schon ziemlich weinseligen Gäste waren gerührt von seinem
ungewöhnlichen Abenteuer, das die übermässige Verspätung
rechtfertigte. Man fragte Tristan Bernard, was er von dem jungen
Mann hielte. Er antwortete, er wäre ihm besonders sympathisch, da er
selbst das gleiche Pech unter ungefähr den gleichen Umständen vor ein
paar Tagen erlebt hätte. »Aber ich«, fügt er hinzu, »konnte nicht so gut
erzählen, und bei mir hat man sofort gemerkt, dass ich nicht die
Wahrheit sprach«. An die Pflicht zur Pünktlichkeit seien besonders die
Damen erinnert. Wir wollen sie auch daran erinnern, dass sie den Hut
abnehmen müssen, sobald die Vorstellung beginnt, auch wenn er noch
so entzückend ist. Die Zuschauer sind der Aufführung wegen
gekommen und nicht um einer Modenschau beizuwohnen. Und eine
Feder am Hut sollte einem den Anblick des Kusses von Romeo und
Julia nicht vorenthalten, nur weil man hinter einer Dame sitzt, die
einen Hut auf dem Kopf hat.
IM KONZERT.
Eine Verspätung ist hier besonders zu tadeln. Beethoven und Mozart
haben ohnehin genügend Tragödien durchlebt, als dass die
Aufführung ihrer Musik noch unterbrochen werden müsste. Wenn die
Theaterverwaltung nicht die Türen am Anfang eines Konzertes
schliesst, sollten die Besucher von sich aus das Ende eines Satzes
abwarten, ehe sie den Saal betreten.
IM FILMTHEATER.
Vielleicht langweilt Sie die Wochenschau oder Sie haben sie schon in
einem anderen Kino gesehen. Das darf aber kein Grund sein, um eine
draussen angefangene Unterhaltung während der Vorstellung
weiterzuführen. Man sollte auch nicht zwischen zwei Sesselreihen
stehen bleiben, um Kleingeld für das Programm zu suchen, denn man
verdeckt zwei oder drei Personen das Bild. Sie hätten daran früher
denken können.
In der Zeit des stummen Films gab es im Saal immer eine gute Seele,
die es übernahm, die Texte laut zu lesen. Wenige Filme nur
vermochten es, trotz dieser »sprechenden« Begleitmusik die Zuschauer
zu fesseln. Um diese Stegreifansager zum Verstummen zu bringen,
brauchte man nur eine Bemerkung etwa in der Art zu machen:
»Erstaunlich, wie die Volkserziehung es fertiggebracht hat, auch die
unbegabtesten Leute fliessend lesen zu lernen«. Heute existiert eine
andere gefährliche Klasse von Zuschauern, nämlich jene, die schon
wissen, was geschehen wird. Sie haben eine Kritik über den Film oder
eine jener billigen, mit Bildern des Films illustrierten Zeitschriften
gelesen oder gar den Film bereits gesehen. Ihren Mitteilungen
verdanken wir es, wenn die Handlung keine Ueber-raschung mehr für
uns bereithält. Das Erdbeben von San Francisco könnte losbrechen,
auch das kann uns nicht mehr überraschen. Was kann man gegen solch
unverbesserliche Schwätzer tun? Vor allem: sie nicht nachahmen! Auch
wenn wir mit Freunden in ein Kino gehen, ist es kein Grund, dass wir
mit ihnen alles, was auf der Leinwand geschieht, so laut besprechen,
als handele es sich um eine Privatvorstellung für uns.
IM THEATER.
Wir müssen es vermeiden, während der Vorstellung über das Stück
zu sprechen. Wir sollten nicht zu schnell urteilen, und in der ersten
Pause nur flüchten, wenn uns der Mut fehlt, bis zum Ende zu bleiben.
Pfeifen und trampeln überlassen wir andern, weniger erzogenen oder
leidenschaftlicheren Zuschauern. Wir bleiben im Theater stets objektiv
und folgen dem Beispiel jener amerikanischen Filmkönige, die ohne
mit der Wimper zu zucken, einer Revue beiwohnen, in der sie
lächerlich gemacht werden. Eine Dame lacht im Theater nicht laut, der
Herr darf sich mehr Lautstärke erlauben. Es ist angebracht, zu gleicher
Zeit wie die anderen zu lachen, vorausgesetzt, dass man nicht zu jenen
gehört, die nachträglich lachen. Wir können die Aufführung durch
unser vereinzeltes Lachen stören und die Schauspieler verwirren, die
nur auf eine Massenreaktion eingestellt sind. Wir dürfen weder eine zu
kurze noch eine zu lange Leitung haben!
AN DER GARDEROBE.
Wenn die Aufführung zu Ende ist, ist es keine Tragödie, ein paar
Minuten länger im Theater bleiben zu müssen. Wir beteiligen uns nicht
an der Schlacht, die vor der Garderobe nach jeder Vorstellung
stattfindet. Wenn wir nicht unbedingt unsere kriegerischen Instinkte
austoben wollen und einen letzten Zug oder Omnibus erreichen
müssen,
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