Der Gute Ton 1950
füllen will. Die Herren können das Glas der Damen füllen; sie
giessen Wasser aber nur auf besonderen Wunsch dazu. In Frankreich
füllt man das Glas der Gäste, sobald es ein wenig geleert ist, wie etwa
der Ober bei uns in einem Lokal einem Gast zwischen zwei Glas Bier
keine Ruhe lässt. So eifrig sollte man bei einer Einladung nicht sein, die
Damen könnten fürchten, dass die Herren die Wirkung des Alkohols
beschleunigen wollten. Beim Wechseln der Gedecke hilft jeder Gast ein
wenig mit.
Man legt Messer und Gabel nach dem Essen nebeneinander auf den
Teller. Man soll den Teller nicht nach der Mitte des Tisches schieben.
Man reicht ihn seinem Nachbarn, wenn man zu weit von der Hausfrau
entfernt ist, um ihn ihr direkt beim Abräumen zu geben. Das gleiche
gilt für die reinen Teller, die gebracht werden. Man hält sie von unten
und setzt den Daumen an den Rand, damit der Teller nicht rutschen
kann. Dadurch wird auch vermieden, dass die Gäste auf ihrem Teller
Fingerabdrücke der Hausfrau oder ihres Nachbarn »bewundern«.
DER »START«.
Viele Gäste glauben, dass es bei einem grossen Essen unhöflich ist,
sofort anzufangen, wenn man sich aufgelegt hat, sondern dass man auf
das Zeichen zum Beginn durch die Hausfrau warten soll. Es ist besser,
gleich zu beginnen, nachdem man bedient ist, dadurch wird das
Servieren einfacher. Natürlich beginnt man in kleiner Gesellschaft
gemeinsam. Das gleiche gilt für das Trinken. Man wartet bei uns bis
die Hausfrau das Zeichen gibt. Im Ausland trinkt man, wann man will;
deshalb dürfen wir nicht erstaunt sein, wenn unsere ausländischen
Gäste trinken, ohne vorher Prost zu sagen.
Aber wir wollen unsere alte Sitte nicht ändern und wir wollen
weiterhin warten, bis die Dame des Hauses uns ihr »Prost« bietet.
Wenn das Besteck nicht direkt neben den Teller gelegt werden kann,
reicht man es dem Gast beim Griff, wobei die Klinge auf der Seite des
Reichenden bleibt. So wird auf der Klinge kein Fingerabdruck zu sehen
sein. Aber diese Erleichterungen in der Etikette entbinden Sie nicht von
der Verpflichtung, Ihrem rechten Nachbarn die Platte zu halten, wenn
er sich bedient, da eine Platte nicht auf dem Tisch stehen darf. Aber
auch dieser Grundsatz wird nicht immer beachtet.
MANIEREN BEI TISCH.
In den letzten Jahren hat sich vieles in der Frage der Manieren bei
Tisch geändert und vereinfacht. Aber darüber kann man sich
schwerlich freuen. Viele Menschen stehen auf dem Standpunkt, dass es
vorteilhafter ist, statt der Gabel die Finger zu nehmen, da ja auch
Stammvater Adam keine Gabel kannte. Es ist seltsam, dass
Grundsätze, die vor ein paar Jahren noch unbestritten waren, heute nur
noch für eine Minderheit gelten und man muss befürchten, dass gute
Manieren bei Tisch mit der Zeit als reaktionär gelten könnten.
Allerdings ist Essen, das heisst die Nahrung vom Teller zum Mund
bringen, keine ästhetische Sache. Bald wird das Wort »Essen« in
unserer Sprache keine Daseinsberechtigung mehr haben, umsomehr als
die deutsche Sprache ein anderes Wort zur Verfügung hat, diese
Handlung zu bezeichnen, wenn es sich um Tiere handelt. Wir raten
allen jenen, die die Eleganz am Tisch verachten, einmal ihre Mahlzeit
vor einem Spiegel einzunehmen. Dann werden sie einmal den Anblick
gemessen, den sie so oft und so grosszügig ihrem Nachbarn bieten,
wenn sie bei Freunden, in der Oeffentlichkeit oder zu Hause
essen, denn auch unsere Angehörigen und intimen Freunde sind
einiger Rücksicht würdig. Während eines solchen »Probeessens« sollte
tiefe Stille herrschen, damit bei jedem Löffel Suppe das schlürfende
Geräusch zu hören ist, welches man selbst verursacht. Auch beim
Salatessen werden sie bald entdecken, dass sie lauter kauen als
zwanzig Hasen. Und was ist das für eine Art, am Tisch zu sitzen? Ist es
wirklich so anstrengend zu essen, dass der Kopf fast auf dem Tisch
liegen muss und man den Arm nicht heben kann? Und ist der Weg
vom Kopf zum Teller kürzer als vom Löffel zum Mund? Es ist wohl
überflüssig zu erwähnen, dass man mit vollem Mund weder spricht
noch trinkt. Wenn man sich selbst gegenüber nicht allzu nachsichtig ist,
wird man mit dem Bild, das der Spiegel zurückstrahlt, nicht sehr
zufrieden sein.
RICHTIGES BENEHMEN BEI TISCH.
Der Herr wartet, bis alle Damen sitzen, bevor er den ihm
angewiesenen Platz einnimmt. Aber er wartet nicht untätig, er ist
seiner Tischdame behilflich, indem er den Stuhl zurückzieht, damit
Weitere Kostenlose Bücher