Der Gute Ton 1950
wenn einer nicht gekommen ist. Die
Situation ist schlimm, noch schlimmer als Sie es ahnen können, wenn
Sie nicht abergläubisch sind. Aber die meisten Menschen sind es. Es
lohnt sich nicht, ihnen zu erklären, dass es dumm sei, an diese
Altweibergeschichten zu glauben, dass sie sich schämen sollten, sich in
einem so aufgeklärten Jahrhundert noch wie kleine Kinder
beeindrucken zu lassen... Man erwartet von Ihnen kein
Glaubensbekenntnis. Wie viele hervorragende Menschen haben diesen
Aberglauben! Balzac zum Beispiel war bestimmt kein Ignorant,
trotzdem hat er fest an die Karten und ans Hellsehen geglaubt, und
viele grosse Männer haben auf jenen Augenblick gewartet, den das
Schicksal angeblich für sie bestimmt hatte... und haben ihre
Entscheidungen auf günstige Tage verschoben.
Auch Ihre Gäste dürfen mit Recht ablehnen, sich an einen Tisch zu
setzen, an dem schon 12 Personen sitzen. Wenn sich eine solche
»Katastrophe« ereignet, können Sie einen Freund anrufen, der es nicht
allzu genau mit der Etikette nimmt. Der Gebrauch des Telephons ist in
dieser »Lebensgefahr« durchaus erlaubt. Nur wählen Sie nicht
jemanden, den Sie eigentlich auch hätten einladen müssen und
gratulieren Sie sich nicht, dass das Schicksal Sie zwingt, diese
absichtliche Vergessenheit wieder gut zu machen. Natürlich ist Ihnen
der Gast, der Sie »gerettet« hat, keine Einladung schuldig. Er soll sich
auch nicht als richtiger Gast betrachten, sondern nur als »Notanker«.
Wenn Sie kein »Opfer« finden, gibt es nur eine Lösung: Sie stellen
einen kleinen Tisch neben den grossen, daran wird ein junges Paar
Platz nehmen und darunter der abergläubischste Ihrer Gäste. Wenn im
Laufe des Essens Salz verschüttet wird, dürfen Sie sich nicht über die
lustig machen, die mit der linken Hand eine Prise Salz über ihre rechte,
oder mit der rechten Hand über die linke Schulter werfen. Die anderen
Tischgenossen können diesem Beispiel folgen, um das »Schicksal zu
beschwören«.
DAS PERSONAL.
Wenn Ihnen geübtes Personal zur Verfügung steht, das schon in
grossen Häusern gedient hat, lassen Sie es seine Livree und weisse
Handschuhe anziehen und kümmern Sie sich um nichts mehr. Aber
dies ist heute ziemlich selten der Fall, und gewöhnlich hat die
Hausfrau nur eine Stundenfrau bestellt, die vielleicht nicht einmal
geschickt in der Kunst des Servierens ist. Dann muss die Hausfrau
genaue Anweisungen geben, ehe das Essen beginnt. Ihre Gäste sollen
nicht Zeugen peinlicher Szenen sein! Das genaue Programm muss
vorher und nicht nach dem Essen festgelegt werden. Die Bedienung
soll klappen, ohne dass die Gastgeber dem Personal Anweisungen zu
geben brauchen, und noch weniger sollten dies die Gäste tun müssen.
Das Personal muss so aufmerksam sein, dass die Gäste nicht
gezwungen sind zu sagen, dass sie Durst haben oder ein Königreich
für ein Stück Brot gäben.
Nur Herren können dem Personal ein wenig helfen: sie können zum
Beispiel ihrer Tischdame Wein einschenken, wenn er in Karaffen auf
dem Tisch steht. S\ie werden auch das Mädchen rufen, wenn ihre
Tischdame etwas benötigt, was nicht auf dem Tisch steht. Wenn ein
Besteck zu Boden fällt, hebt es nicht der Gast auf, sondern das
Mädchen, das das Besteck sofort wechselt. Wenn eine der Damen ihre
Serviette fallen lässt, sollte sie sich nicht bücken, um sie aufzuheben.
Sie könnte ihren Kopf mit dem ihres Nachbarn stossen, wenn er im
gleichen Augenblick das gleiche tun will.
Die Platten werden den Gästen von links gereicht, damit sie bequem
mit der rechten Hand zugreifen können. Man bedient in der
Tischordnung, das heisst, zuerst werden die Platten den Damen
gereicht, und zwar in der Reihenfolge ihrer Plätze; man beginnt also
mit der Dame, die den Ehrenplatz neben dem Hausherrn innehat. Es
folgt die Dame links des Hausherrn usw., bis alle Damen, als letzte die
Frau des Hauses, bedient sind. Nun werden die Herren, gleichfalls in
der Rangordnung ihrer Plätze, bedient. Wenn aber ein Geistlicher
neben der Dame des Hauses sitzt, werden ihm als Erstem, selbst vor
den Damen, die Speisen gereicht. Zuletzt wird der Hausherr bedient.
Man unterscheidet mehrere Arten des Servierens, die englische,
französische und russische. In England wie auch in Frankreich
kommen die Gerichte unzerteilt auf die Tafel, häufig steht der erste
Gang schon auf dem Tisch, wenn die Gäste erscheinen. Die russische
Art des Servierens bereitet sämtliche
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