Der Gute Ton 1950
die
Dame an den Tisch kommen kann. Sobald sich die Dame des
Ehrenplatzes gesetzt hat, nimmt sie Platz. Der Herr schiebt ihren Stuhl
etwas vor, ohne sie jedoch dabei zwischen Tisch und Stuhl zu
zerquetschen. Dann erst nimmt er selbst Platz. Jeder Gast soll darauf
achten, dass sein Stuhl richtig steht nicht zu nah aber auch nicht zu
weit vom Tisch! Aber man soll auch nicht einen Pianisten nachahmen,
der, bevor er anfängt zu spielen, fünf Minuten lang die Höhe oder die
Stellung des Stuhles verändert. Man legt seine Ellbogen nicht auf den
Tisch, das ist erst nach Beendigung des Essens erlaubt, das heisst, wenn
das Rauchen erlaubt ist. Eine Dame darf die Hände bis zum Gelenk auf
den Tisch legen, ein Herr darf sich etwas weiter »vor-
wagen«. Man soll bei Tisch seine Reden nicht mit lebhaften Gesten
begleiten, die den Nachbarn stören und Gläser ins Wanken bringen.
DIE SERVIETTE.
In den Falten der Serviette liegt ein Stück Brot, deshalb ist es besser,
sie nicht allzu schnell auseinanderzufalten. Man soll nicht so zufassen,
als wollte man auf dem Schlachtfeld eine Fahne zurückerobern.
Dadurch kann das Brot in hohem Bogen hinausfliegen. Man legt die
Serviette auf den Schoss. Pessimisten und unsichere Menschen binden
sie um den Hals gerade als wollten sie ausdrücken, dass sie jetzt
vorbereitet sind, allen Stürmen zu widerstehen, und vor keinem
Wagnis zurückzuschrecken! Dann sollen die anderen ruhig ihren
Schirm aufspannen! Diese umgebundenen Servietten sehen so nach
Kinderzimmer aus. Schade, dass man diesen Männern nicht einen
Lutscher oder eine Kinderflasche geben kann, denn Frauen begehen
niemals solche Fehler. Andere Gäste stecken die Ecke ihrer Serviette in
das Knopfloch ihrer Jacke. Sie benehmen sich nicht wesentlich besser.
Auch ist es falsch, seine Serviette vollkommen zu entfalten: man legt
sie in drei Teile gefaltet der Länge nach auf den Schoss. Die Serviette
spielt keine schützende Rolle, die spielt sie nur bei kleinen Kindern.
Für Erwachsene ist sie weder eine Schürze noch ein Lätzchen. Wer
richtig essen kann, braucht für seine Kleider nichts zu fürchten. Die
Serviette ist nur da, um den Mund abzuputzen, sie ist keine Zierde des
Tisches, sie darf ruhig benutzt werden. Die Damen sollten vermeiden,
allzu viel Spuren von Lippenstift auf der Serviette zu hinterlassen, es
empfiehlt sich möglichst einen nicht abfärbenden (kussechten)
Lippenstift zu benutzen, nicht einer jener Sorte, von denen Sacha
Guitry behauptet, dass sie so schlecht auf den Lippen haften und so gut
anderswo. Nach dem Essen wird die Serviette nicht gefaltet, sondern
(nicht zu nachlässig!) auf den Tisch neben den Teller gelegt. Wenn Sie
ständiger Gast in einem Hause sind, falten Sie Ihre Serviette
zusammen, man wird Ihnen vielleicht auch eine Tasche geben.
Wir wollen noch hinzufügen, dass man die Serviette jedesmal vor
dem Trinken benutzt, um sich die Lippen abzuwischen. Wir vermeiden
dadurch die hässlichen Fettränder auf unserem Glas.
Es empfiehlt sich, den Teller nicht mit der Serviette vor dem Essen
abzuputzen. Viele glauben, dass sie dadurch ihre grosse
Sauberkeitsliebe ausdrücken; einige Minuten später führen sie die
gleiche Serviette, die sie mit einem Abwischtuch verwechselten, zum
Mund — und das nennen sie Sauberkeit. Eine seltsame Art von
Höflichkeit dem Gastgeber gegenüber. Wie wagen es diese Menschen,
sich an einen Tisch zu setzen, dessen Sauberkeit ihnen zweifelhaft
scheint? Wenn sie schon die Teller putzen, wie können sie etwas essen,
ohne es vorher untersucht zu haben! Wenn diese Angewohnheit eine
Art Steckenpferd ist, sollte man sich vor fremden Leuten unbedingt
beherrschen.
DIE SUPPE.
Wohl findet man ein Stück Brot in den Falten der Serviette vor, aber
man isst es nicht zur Suppe. Ueber den Geschmack lässt sich nicht
streiten, aber nur das Sichgehenlassen erlaubt uns, Brot zur Suppe zu
essen, eine Sitte, die sich während der Hungerszeit eingebürgert hat.
Auch Aerzte werden in diesem Falle mit der Höflichkeit einig gehen,
denn die Mischung von Brot und Suppe ist besonders schwer
verdaulich. Man soll den Löffel auch nicht zu voll nehmen, es ist sonst
zu befürchten, dass man die Hälfte auf den Tisch oder auf die eigene
Kleidung schüttet. Man taucht den Löffel nicht zu tief in den Teller, der
übrigens immer nur zu drei Viertel gefüllt ist. Diese Vorsicht
verhindert, dass wir mit einem Aufschrei den Löffel fallen lassen,
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