Der Gute Ton 1950
Brot, es
wäre zu deutlich ausgedrückt, dass man vor Hunger stirbt und dass
die Pausen zu lange dauern. Man soll auch die unästhetische
Angewohnheit unterlassen, kleine Brot-kügelchen zu drehen. Es ist
vielleicht unterhaltend und nervenberuhigend, aber es ist wirklich
nicht appetitlich dabei zuzusehen. Es gibt auch Menschen, die mit der
Brotkruste spielen, sie mit den Nägeln zerkleinern und mit dem
Daumen zerdrücken!
DIE GEWÜRZE
Es ist peinlich für eine Hausfrau, wenn ihre Gäste die Speisen, die sie
gerade gekostet hat, mit Pfeffer bestreuen oder das Fleisch unter einer
Senfschicht begraben. Die Hausfrau kann sich mit Recht wundern, aber
sie darf ihre Gäste nicht fragen, ob die Speisen wirklich zu wenig
gewürzt sind. Ein gut erzogener Mensch wird es vermeiden, auf dem
Tisch stehende Gewürze zu benutzen. Die Gewürze stehen nur für
bestimmte Gerichte da, zum Beispiel für Suppenfleisch. Man bestreut
die Speise mit Pfeffer, das Salz und den Senf tut man in kleinen
Häufchen auf den Rand des Tellers und stippt je nach Geschmack
darin ein.
UM DAS UNERREICHBARE ZU ERREICHEN...
Man zeigt bei Tisch nicht seine Begabung für Akrobatik, um einen
weit entfernten Brotkorb oder ein Salzfässchen zu erreichen. Es ist
unhöflich, mit seinem Arm an dem Nachbarn vorbeizureichen, um
etwas zu holen, was auf dem Tisch steht. Man verlangt darum bei dem
Personal was fehlt; wenn kein Personal da ist, soll man sich nicht vom
Stuhl erheben, über den Tisch lehnen, um das »Unerreichbare« zu
erreichen unter dem Motto, seinen Nachbarn nicht stören zu wollen. Es
ist viel einfacher, seinen Nachbarn zu bitten, den Gegenstand zu
reichen. Wenn er selbst noch zu entfernt von ihm ist, wird er seinerseits
seinen Nachbarn bitten.
WENN EIN MALHEUR PASSIERT!
Jeder kann einmal eine Gabel oder ein Messer fallen lassen. Wenn
Bedienung da ist, wird sofort auf einem Teller ein neues Besteck
gebracht werden. Wenn keine Bedienung da ist, hebt man das Besteck
so diskret wie möglich auf, und putzt es mit einem Stückchen Brot ab.
Es kann auch jedem einmal passieren, dass er sich oder seinen
Nachbarn befleckt. Dieser soll nicht sofort Zeter und Mordio schreien
oder erklären, wie schrecklich das sei. Er wird nicht jeden darauf
aufmerksam machen. Das Mädchen oder die Hausfrau wird nach dem
Essen Fleckenwasser bereitstellen. Man darf nie bereits am Tisch
anfangen zu putzen oder gar verschwinden. Man muss ruhig bis zum
Kaffee warten und mit der Gastgeberin beraten, ob der Fleck bis zur
Rückkehr nach Hause anstehen kann.
WENN MAN TRINKT!
schlägt man die Augen nieder, damit die anderen weder die
Enttäuschung noch die Beglückung beim ersten Schluck bemerken. Vor
dem Trinken soll man niemals vergessen seine Lippen abzuputzen,
damit keine fettigen Spuren am Glasrand bleiben. Auf jene »feinen
Manieren« können wir heute verzichten, die vor 30 Jahren »der letzte
Schrei« waren: man musste damals beim Trinken den kleinen Finger
zum Zeichen der Grazie möglichst weit von den anderen wegspreizen.
WENN MAN SPRICHT!
Es gibt Menschen, die während der ganzen Mahlzeit ihre Nase in
den Teller neigen und den Mund nur aufmachen, um zu essen. Sie
machen den Eindruck, als hätten sie keine Zeit zu versäumen. Andere
sind unerschöpfliche Schwätzer am Tisch. Sie sind immer zuletzt fertig
und halten die Bedienung auf. Und natürlich lässt sie die Höflichkeit
der anderen Gäste glauben, dass ihre Worte jedermann entzücken. Sie
halten ihre Rede mit einer Stimme, die den anderen Tischgenossen
Achtung gebietet.
Es ist nicht ratsam, sich in seiner Rede an den ganzen Tisch zu
wenden. Man sollte seinem Nachbarn auch die Möglichkeit zu
sprechen geben. Man hat Sie absichtlich neben Ihren Nachbarn gesetzt,
damit Sie einander kennenlernen. Wenn Sie sich unterhalten, dürfen
Sie diesem Gespräch keinen zu intimen Charakter geben, sonst wird
man nachher von »Liebe auf den ersten Blick« zu Ihrem Nachbarn
sprechen. Ihre beiden Nachbarn haben das
gleiche Recht, sich zu unterhalten, es wäre nicht nett, sich einer
einzigen Person zu widmen und der anderen nur den Rücken
zuzuwenden.
DIE WASSERSCHALE.
Man benützt sie heute nur selten. Man denkt wahrscheinlich, dass
die Menschen von heute essen können, ohne sich die Finger zu
beschmutzen. Wasserschalen sind nur nach Speisen erforderlich, die
man mit den Fingern essen muss, zum Beispiel bei Artischocken oder
bei Fisch, der Gräten wegen. Das Wasser
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