Der Gute Ton 1950
Kindtaufe: »Ich erhebe mein Glas und trinke auf das Wohl
des Neugeborenen, möge...«
Für die Feier des .. ten Hochzeitstages: »Ich er-
hebe mein Glas und trinke auf die Fortsetzung dieser glücklichen Ehe,
mögen noch viele Jahre...«
DIE GESÄNGE.
Man lässt heute nicht mehr zur Nachspeise Künstler singen.
Das war eine wenig schöne Sitte. Wir wollen hiermit Ali Khan keinen
Vorwurf machen, weil er für sein Hochzeitsessen eigens einen
berühmten Sänger aus Paris kommen Hess, um ein paar Schlager
vortragen zu lassen.
IM SALON.
Wenn die Nachspeise eingenommen ist, besteht kein Grund mehr,
noch länger am Tisch sitzen zu bleiben. Man sollte jetzt die etwas
unfestlich gewordene Tafel verlassen. Es ist natürlich schwer, die Gäste
in einen Salon zu führen, wenn es keinen Salon gibt. Aber wir brauchen
nicht zu verzweifeln. Die Hausfrau wird in einem solchen Fall den
Tisch sofort abdecken lassen oder mit Hilfe einer Freundin selbst
abdecken, wenn kein Mädchen da ist. Aber sie wird natürlich nicht das
Geschirr spülen oder mit Bürste und Besen, wie zu einem gros-sen
Frühjahrsputz, erscheinen. Sie wird nur mit einem kleinen Tischbesen
die Brotkrumen zusammenkehren und schon sieht das Tischtuch für
den Cafe wieder frisch aus.
Wenn man über einen Salon verfügt, gibt die Dame des Hauses das
Zeichen zum Aufstehen, und die Gäste folgen. Der Salon sollte im
Sommer kühl sein, aber nicht im Winter. Er muss besser geheizt sein
als das Esszimmer, da ein Zimmer das leer ist, von sich aus schon
kälter wirkt als der Raum, in dem die Gäste soeben stundenlang
gesessen haben.
DER KAFFEE
Man reicht ihn genau wie man Tee serviert. Wir sprechen unter
diesem Kapitel ausführlich darüber.
UNTERHALTUNG UND SPIELE.
Gastgeber müssen alles für die Unterhaltung ihrer Gäste tun. Sie
werden keine langweiligen Vorträge halten, sie werden für eine gute
und zwanglose Unterhaltung sorgen und es den Gästen überlassen,
sich wie und mit wem es ihnen gefällt zu unterhalten. Eine gute,
heitere Stimmung zaubert man nicht durch ein paar schrilltönende
Schallplatten hervor; man richtet sich nach dem Willen der Gäste und
zwingt ihnen nicht seinen eigenen Willen auf. Man zählt z. B. die
»Bridgebesessenen« und richtet für sie eine ruhige Ecke ein, in der sie
ruhig überlegen können, ohne von Tanzmusik und Trubel gestört zu
werden.
ERFRISCHUNGEN.
Wenn sich der Abend ausdehnt, werden der Cafe und der Likör bald
vergessen sein, und man muss seinen Gästen neue Getränke anbieten.
Wir raten Ihnen, Cocktails zu vermeiden! Wenn das Wetter zu warm
ist oder die Heizung zu gut funktioniert, werden ein paar Glas
Cocktails genügen, den Geist Ihrer Gäste in einen Nebel zu hüllen.
Man sollte deshalb ein paar belegte Brötchen und etwas Gebäck
reichen, umsomehr als der Magen, je mehr es gegen Morgen zugeht,
wieder nüchtern wird. Jeder weiss aus Erfahrung, dass man gegen
Mitternacht wieder hungrig wird, wenn man nicht schläft.
ABSCHIED OHNE ORANGENWASSER.
Die »Geschichte des guten Tons« erzählt uns von einer lange
vergessenen, recht grotesken Sitte. Sie hat ihr Zeitalter nicht überlebt,
wie alle die Bräuche, die keinen natürlichen Ursprung haben. Wenn die
Gastgeber glaubten, dass der Abend lange genug gedauert hatte,
Messen sie ihren Gästen ein Glas Orangenwasser bringen.Man würde
es heute als zarte Aufmerksamkeit ansehen, aber damals war dies nicht
der Fall. Dieses Gesundheitsgetränk sagte den Gästen, dass es jetzt an
der Zeit war zu gehen. Eine zweite Aufforderung zum Aufbruch durfte
ein Gast nicht provozieren. Auch heute wäre dieses
Abschiedsorangenwasser für manche Leute recht heilsam: wir denken
an die Gäste, die nicht wagen Abschied zu nehmen, weil sie glauben,
dass es unhöflich sei, ihre Gastgeber zu verlassen.
Ein Grundsatz gilt für ein Festessen wie für eine Tee-Einladung: man
darf nicht sofort nach dem letzten Bissen aufbrechen. Dies würde allzu
deutlich sagen, dass nicht die Gesellschaft der Gastgeber, sondern die
Bewirtung der Hauptanziehungspunkt des Empfangs war. Diesen
Eindruck sollte man vermeiden, besonders wenn er der Wirklichkeit
entspricht! Eine Einladung zu einem Abendessen zwingt die Gäste
nicht, die Nacht bei ihren Gastgebern zu verbringen, auch wenn sie
gern bei ihnen sind. Zu einer bestimmten Zeit werden die meisten den
Schlaf vorziehen. Es gibt Leute, die nicht recht wissen, mit welcher
Redewendung sie sich verabschieden
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