Der Gute Ton 1950
diese
schwere Zeit zu überstehen. Man hat nicht nur dem Toten gegenüber
Verpflichtungen, sondern auch dem Lebenden gegenüber. Es ist
unmöglich, ganz abseits von allem zu leben, was sich auf der Welt
bietet. Man kann niemand das Recht verwehren, am Rundfunk ein
Sinfoniekonzert zu hören oder ein paar Wochen nach dem Todesfall
ein Konzert klassischer Musik zu besuchen. Selbstverständlich sollte
der Trauernde nicht in der Pause im Foyer einige Getränke zu sich
nehmen und sich mit ein paar Freunden lustig unterhalten. Man kann
auch bei einem offiziellen Empfang erscheinen, wo sich jedermann gut
benehmen muss und wo man von vielen Leuten gesehen wird, die
nützlich sein können. In diesen Fragen soll man sich ruhig auf sein
Taktgefühl verlassen und sich nicht allzu sehr an alte Regeln
klammern. Jedermann hat das Recht seinen Schmerz so zu verwinden,
wie es ihm am besten scheint, ohne dass sich eine ganze Stadt darüber
aufhält. Taktvolle Menschen werden von sich aus wissen, was sich
schickt.
XIV.
OFFIZIELLE UND GESCHÄFTLICHE BEZIEHUNGEN
Es gibt Menschen, die glauben auf Höflichkeit; besonders während
des Dienstes verzichten zu können, weil sie Abgeordnete oder Beamte
geworden sind. Andere, die Gleichgestellten gegenüber
zuvorkommend sind, scheinen noch nie etwas vom guten Ton gehört
zu haben, sobald sie mit Angestellten oder Geschäftspartnern sprechen.
Sie sind dann erstaunt, wenn man ihnen in der gleichen Art antwortet.
Ohne den Hut abzunehmen, betreten sie ein fremdes Büro und ohne
den zu grüssen, der ihnen eine Auskunft geben soll. Nachdem sie eine
ungenügende Erklärung abgegeben haben, empören sie sich, wenn
man über ihren Fall nicht sofort entscheiden kann. Sie setzen voraus,
dass man ihr Anliegen natürlich kennt. Es sind die gleichen Menschen,
die es sich nicht vorstellen können, dass die Telefonistin nicht sofort
eine Fernverbindung herstellen kann. Man muss nicht unbedingt so
rücksichtsvoll wie der berühmte amerikanische Meister der
Lebenskunst, Dale Carnegie, sein, der auf dem Postamt beim
Briefmarkenkaufen, den Angestellten davon überbeugen wollte, dass
er bezauberndes, glänzendes Haar hat. Solche Liebenswürdigkeiten
sind nicht notwendig,'man braucht sich nicht gerade mit der
Telefonistin zu verabreden oder ihr Komplimente über den Klang ihrer
Stimme zu machen, aber man sollte ihre Nervosität nicht noch durch
wütende Bemerkungen steigern.
Man darf die Zeit der anderen nicht missbrauchen, auch wenn man
überzeugt ist, dass ihre Haupttätigkeit darin besteht, die Zeitung zu
lesen, schwierige Kreuzworträtsel zu lösen, oder die
»Lebenserinnerungen eines Faulenzers« zu dichten. Man erbittet von
einem Minister nicht eine Audienz, um sich mit ihm über den Mangel
an Regen oder über das ewig schöne Wetter zu unterhalten. Man
erklärt sein Anliegen lieber brieflich und bittet erst um eine Audienz,
wenn man keine Antwort auf seinen Brief erhalten hat. Man redet eine
offizielle Persönlichkeit mit seinem Titel an. Dagegen soll man im Text
des Briefes die Wiederholung von »Sehr geehrter Herr Minister«
vermeiden. Man kann respektvoll, aber nicht unterwürfig sein. Das
gleiche gilt für eine Audienz. Man wartet, bis man gebeten wird, Platz
zu nehmen und man reicht nicht von sich aus die Hand. Man kann in
Geschäftsbeziehungen der Bittende sein, aber das ist kein Grund, sich
kriecherisch zu benehmen, selbst wenn man Ihnen einen Gefallen tut
oder die Ware kauft, die Sie angeboten haben.
Wenn man sich bei einem neuen Arbeitsplatz vorstellt, ist man noch
nicht engagiert; Sie können Angestellter werden, aber Sie sind es noch
nicht. Es ist keine geistreiche Prüfung für einen Chef, einen Bleistift vor
jemanden, der sich bewirbt, fallen zu lassen. Man weiss nicht, ob er an
die Höflichkeit des künftigen Angestellten appelliert oder eines
Menschen, der ihm gegenüber frei ist. In jedem Fall würde sich der
Chef selbst bücken müssen, um den Bleistift aufzuheben. Aber ebenso
schnell muss sich der Angestellte bücken, genau so wie er es im
privaten Leben täte. Das Verhältnis Chef - Angestellter ist nicht das
eines Hausherrn zu seiner Putzfrau.
Ein Chef soll von seinem Angestellten nichts verlangen, was nicht in
den Rahmen seiner Tätigkeit gehört. Geschäft und Privatleben müssen
getrennt bleiben. Ein Angestellter sollte Erweiterungen seines
Arbeitsbereichs nicht stillschweigend hinnehmen. Ein Chef soll sich
den Anschein
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