Der Gute Ton 1950
niemand für den Bericht überall' das interessieren, was
Ihnen in den letzten Tagen zugestossen ist. Andere sind genau wie wir
selbst, sie stellen das, was sie angeht, über alles. Wenn wir gefallen
wollen, werden wir über das sprechen, was den anderen Freude macht
und nicht über das, was uns interessiert. Die Rolle der Gastgeber
verlangt, dass sie jeden ihrer Gäste ins rechte Licht setzen. Sie werden
sich bemühen, die Unterhaltung auf ein Thema zu bringen, das ein
Spezialgebiet einer ihrer Gäste streift und das von allgemeinem
Interesse ist.
DIE GELEGENHEIT BEIM SCHOPF FASSEN!
Wir haben eben allgemein interessierende Dinge erwähnt. Wenn der
Finanzminister unser Gast ist, werden wir nicht von ihm verlangen,
dass er uns bei unserer Steuererklärung hilft. Man verlangt ja auch
vom Arbeitsminister nicht, dass er einen Nagel einschlägt, oder vom
Ernährungsminister, dass er in der Küche hilft.
Man kann aber sehr wohl einen Finanzminister fragen, was er über
eine etwaige Abwertung denkt, ohne jedoch Fragen zu stellen, die ihn
zu dienstlichen Indiskretionen zwingen könnten. Man kann sich mit
einem Arzt über neue Heilwege unterhalten ohne die Gelegenheit beim
Schopf zu fassen, um ihn »kostenlos« über den eigenen Krankheits-
fall zu befragen. Das wäre doppelt unhöflich, da wir schon gesehen
haben, dass es unschön ist, vom eigenen Ich zu sprechen.
VERBOTENE THEMEN.
Es gibt Themen, über die nur Menschen mit sicherem Instinkt
sprechen sollten. Man spricht z. B. nicht über Religion mit einem
Geistlichen, wenn man nicht derselben Ansicht ist. Man spricht auch
mit einem Abgeordneten nicht von Politik, wenn man nicht der
gleichen Partei angehört. Politik könnte sonst ein Gesellschaftszimmer
in einen Jahrmarkt verwandeln. Es ist erstaunlich, wie Menschen, die
man als kaltblütig und gut erzogen schätzt, sich verändern, wenn sie
ihre politischen Ideen verteidigen. Schon eine politische Diskussion
zeigt auch dem Dümmsten, wie Kriege entstehen. Es gibt allerdings
Zeiten, in denen dieses Thema nicht ausgeschaltet werden kann, zum
Beispiel während einer Wahl. Eine Gastgeberin hatte während einer
politisch bewegten Zeit einige Gäste eingeladen. Aus Furcht, ihr
Esszimmer könnte sich in einen Versammlungssaal mit freier
Diskussion verwandeln, hatte sie ihre Gäste beschworen, nicht von
Politik zu sprechen. Nach einigen Minuten war sie von dem
Stillschweigen, das um sie herrschte, so bedrückt, dass sie ihre Gäste
anflehte, endlich von der Politik zu sprechen.
UNPASSENDE THEMEN.
Die Ernährung ist kein schöner Unterhaltungsstoff, ausserdem ist in
den letzten Jahren zu viel darüber gesprochen worden. Es ist höchste
Zeit, dieses Thema zu vergessen. Die Preise sind auch kein erfreulicher
Gegenstand. Aber man kann jedes Gesprächsthema veredeln; wenn
man zum Beispiel von Preisen spricht, kann man das Verhältnis der
Preise zu den Gehältern erörtern, ohne jedoch dabei zu genau auf die
Ursachen der Krise und der Arbeitslosigkeit einzugehen, da man sonst
eines jener Themen bedenklich streift, das wir soeben als tabu
bezeichneten.
HARMLOSE GESCHICHTEN.
Es gibt viele gefährliche und unschöne Themen. Aber Gott sei Dank,
bleiben uns harmlose, amüsante, heitere Geschichten. Aber auch mit
ihnen sollte man vorsichtig sein. Man soll seine Geschichte erst einmal
einem guten Freund erzählen, um zu sehen, ob sie wirklich komisch ist
und ob sie nicht eine überdurchschnittliche Geistesanstrengung
verlangt, um gleich und nicht erst morgen verstanden zu werden. Sie
sollten Ihren Freund auch fragen, ob Sie die Geschichte gut erzählen,
denn viele erzählen zu ihrem eigenen Vergnügen und nicht zum
Vergnügen ihrer Mitmenschen. Oft muss man eine Viertelstunde lang
zuhören, ehe endlich die Pointe kommt. Eine kleine Geschichte soll wie
eine Varietenummer »gut sitzen«. Man soll nicht selbst lachen, wenn
man beginnt, seine Geschichte zu erzählen, es könnte vorkommen, dass
Sie der einzige sind, der lacht.
DIE ÜBEREMPFINDLICHEN.
Und schliesslich muss man auf die übergrosse Empfindlichkeit der
Menschen Rücksicht nehmen.
Man kann zum Beispiel in aller Unschuld eine ganz harmlose
Geschichte erzählen, etwa so:
»Sie kennen die Geschichte vom Tünnes, der aus dem Beiwagen fiel
und den die Strassenpassanten zu retten glaubten, indem sie ihm den
Kopf an die »richtige« Stelle setzten, während doch der arme Tünnes
seine Weste »verkehrt« angezogen hatte,
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