Der Gute Ton 1950
stürzen; man hat
entdeckt, dass ein Schlafwagen oder ein Hotelzimmer kein idealer
Rahmen für die ersten Stunden dieser Einsamkeit zu zweit sind. Das
Ehepaar bleibt lieber die ersten Tage seiner »Flucht« in ihrer neuen
Wohnung oder im Hause von Freunden, die die gute Idee hatten, ihnen
auf dem Land ihr Häuschen für die Flitterwochen mit einem tüchtigen
Dienstboten zu überlassen.
Auch wenn man weiss, wo das Versteck ist, wird niemand sie stören;
auch die Mutter wird nicht beim Morgengrauen erscheinen, um sich zu
informieren. Es gibt nichts zu erfahren. Es schickt sich auch nicht, am
Tag nach seiner Hochzeit wieder im Büro bei der üblichen
Beschäftigung zu erscheinen. Man schwätzt darüber und deutet es
bestimmt in dem Sinn, dass die jungen Leute dem Ereignis nicht viel
Bedeutung beilegen. Vielleicht sind sie Schüler des bekannten
amerikanischen Essayisten Emmer-son, in dessen Leben Frauen keine
grosse Rolle spielten, und der seiner Frau in seinem Tagebuch nur eine
Zeile widmete. Sie lautete ungefähr: »Heute habe ich Fräulein soundso
geheiratet.« Ohne Kommentar.
Es ist ein Irrtum auf eine Hochzeitsreise zu verzichten. Ohne eine
Weltreise gemacht zu haben, kann man glückliche Erinnerungen
zurückbringen, und es ist so angenehm den alltäglichen Leuten und
der gewohnten Umgebung ein paar Tage zu entfliehen.
DIE VERMÄHLUNGSKARTE.
Die Vermählungskarte soll nicht mit einer Einladung zur Messe
verwechselt werden, obwohl der Text ungefähr der gleiche ist. Wenn
die Hochzeit im engsten Familienkreis gefeiert wurde, wird die
Vermählungskarte einige Tage nach der Hochzeit versandt. Sie wird an
die Leute geschickt, die man nicht in der Kirche sehen oder zu einem
Geschenk und Blumen verpflichten wollte. Man beantwortet diese
nachträgliche Vermählungsanzeige mit einer Visitenkarte.
WIEDERVERHEIRATUNG.
Wenn ein Witwer oder eine Witwe sich wieder verheiraten, werden
sie der Zeremonie wenig Glanz geben. Man veranstaltet keinen Ball,
aber man heiratet auch nicht im Traueranzug. Die Kinder aus erster
Ehe wohnen dem Hochzeitsessen bei. Sie sollen nicht abseits stehen,
sondern im Gegenteil den neuen Verwandten so gut wie möglich
empfangen. Es ist die Pflicht der Eltern, den Kindern die Lage so
geschickt wie möglich zu erklären, sie sollen nicht im Zweifel über die
Rolle sein, die das neue Familienmitglied spielen wird. Man soll nicht
sagen, dass sie das erst später verstehen werden. Es ist viel wichtiger,
was sie heute verstehen oder zu verstehen glauben. Welches auch das
Alter des Kindes sei, es braucht Erklärungen. Man soll vermeiden, dass
es eine falsche Vorstellung gewinnt, die ihm Leid bringt und Komplexe
schafft. Wenn das Kind nicht mehr so jung ist, dass der neue Eltern-teil
den Platz des Verstorbenen einnimmt, ist es wichtig, einen vertrauten
Namen zu finden, den das Kind von nun an zum neuen Vater oder zur
neuen Mutter sagt. Der Wiederverheiratete trägt von dem Tage der
Hochzeit an nicht mehr den Ehering des Verstorbenen.
DIE SCHEIDUNG.
Von allen Ereignissen des Lebens ist die Scheidung in den letzten
Jahren am meisten in Mode gekommen. In Amerika ist San Reno die
Scheidungsstadt für die Millionäre. Sie bezeichnet sich selbst als die
grösste kleine Stadt der Welt, wo man sich besonders gut amüsiert. In
San Reno ist für diese verrückten Menschen eine Scheidung ein
glückliches Ereignis. Man singt das Loblied der wiedergewonnenen
Freiheit, ehe man sie schnell und mit genau so wenig Ueberlegung wie
das erstemal wieder aufgibt. In San Reno wirft man nach der
Scheidung von einer Brücke die Trauringe ins Wasser. Auf dieser
Brücke treffen sich die verschiedensten Geschiedenen — und sogleich
beginnt ein neuer Liebesroman. Die Scheidung wird nur als der
Anfang eines neuen Glücks betrachtet. Es gibt Scheidungsessen, bei
dem sich die geschiedenen Ehegatten als die besten Freunde der Welt
trennen, besonders wenn die Unterhaltsumme, die der Dame
zugesprochen wurde, erheblich genug war.
Wir raten nicht dazu, dieses Beispiel nachzuahmen, aber wir können
auch nur schwer diese unglücklichen Eheleute bewundern, die ihre
Nachbarschaft zum Zeugen ihrer lärmenden Unverträglichkeiten
machen. Ihr gemeinsames Leben kann unmöglich weitergehen, eher im
Interesse der anderen Mieter des Hauses als in ihrem eigenen. Man
muss nicht die bedauerliche Lösung einer Scheidung mit frohem
Herzen annehmen, aber es ist besser, sich zu einer Trennung
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