Der Gute Ton 1950
geben, als interessiere er sich für das Leben seiner
Angestellten, die Angestellten können sich gelegentlich nach dem
Ergehen des Chefs und seiner Familie erkundigen. Der Chef sollte jede
übertriebene Vertraulichkeit vermeiden, die für beide Teile nur
peinlich sein könnte. Er ladet niemand zum Essen ein, der sich nicht
revanchieren kann. Eine solche Einladung wäre für den Eingeladenen
gleichbedeutend mit Ueberstunden. Er hätte gern auf diese Ehre
verzichtet. Man wird auch seinen Chef nicht bitten, Trauzeuge oder der
Pate seines Kindes zu sein. Solche Freundschaftsbeweise müssen vom
Chef ausgehen. Er könnte sonst glauben, der Angestellte wolle sich
Liebkind bei ihm machen.
DIE PÜNKTLICHKEIT.
Es gibt Menschen, die es für klug halten, auf sich warten zu lassen.
Sie sind der Meinung, damit ihre Ueberlastetheit zum Ausdruck zu
bringen, damit die »Gnade« mehr geschätzt wird, die sie jemandem
gewähren, wenn sie ihn empfangen. Was kann man von einem
Minister oder hohen Staatsbeamten erwarten, der sich für 2 Uhr
verabredet, aber erst um 8 Uhr oder sogar am nächsten Tag die
Audienz gewährt. Man kann nur hoffen, dass er es besser versteht, das
Land zu verwalten, als seinen Stundenplan einzuteilen! Man muss aber
zugeben, dass die meisten heutigen Minister höflich und verständig
genug sind, um diesen Missbrauch auszumerzen. Sie haben den Fehler
jenen vererbt, die davon träumen, einmal Minister zu werden, vorerst
aber andere warten lassen und glauben, heute schon eine wichtige
Persönlichkeit zu sein.
DIE FEINDE.
Wenn dieses Buch »der gute Ton 1900« hiesse, würde es die
unentbehrlichen Regeln über das Duell enthalten, jenen Luxussport der
oberen Zehntausend des vorigen Jahrhunderts. Ah, welch' wunderbare
Zeit! Natürlich konnte es vorkommen, dass jemand in einem Duell
getötet wurde, aber dann war es nur ein Unfall. Es gab unter den
Studenten Säbelduelle, denen mehrere Generationen Schmisse
verdanken, welche den Frauen jener Zeit so anziehend erschienen. Das
Duell ist tot, und wir trauern ihm nicht nach, nicht jenen
tragikomischen Ohrfeigen, den Verschönerungsversuchen, dem
Austausch der Visitenkarten, der Verachtung, mit der man seinen
anerkannten Feind strafte... Unsere sportliche Zeit soll lieber nicht
versuchen, das Duell durch einen Faustkampf zu ersetzen. Noch ist es
nicht Mode, dass die romantische Jugend das verstümmelte Ohr und
das blaugeschlagene Auge eines Boxers bewundert, wie ihre
Grossmütter die tiefen Schmisse ihrer Kavaliere. Ein Mann »trägt« im
Jahre 1950 noch keine plattgeschlagene Nase. Man sollte Schlägereien
jeder Art dem Wilden Westen überlassen. Man kann Feinden
gegenüber — die ja jeder hat — eine gleichgültige Haltung empfehlen;
aber vielleicht wäre sogar eine sehr freundliche Haltung vorzuziehen,
von besorgter Aufmerksamkeit überschäumend, mit der Anrede
»Lieber Freund« zum Beispiel. Man wird den »besten Freund«
klugerweise mit Fragen über seine Geschäfte, seine Familie und seine
Gesundheit überschütten. Es gibt kein wirksameres Mittel, seine
Feinde zu verwirren!
XV.
DI E U NTERHALTUNG
Die Unterhaltung ist eine schwierige Kunst, das schwerste daran ist,
ein passendes Thema zu finden.
DER REGEN UND DAS SCHÖNE WETTER
sind wunderbare Themen, ein unerschöpflicher Gegenstand, eine
Unterhaltung einzuleiten. Es kann kalt oder warm sein, man hat immer
Grund, sich darüber zu freuen oder zu klagen. Und die Ernten
interessieren jedermann. Es kann nur schwerlich eine Diskussion über
dieses Thema entstehen. Es ist aber unelegant, untrügliche eigene
Wetterpropheten zu zitieren, wie zum Beispiel Hühneraugen, Ischias
und andere Uebel. Wenn sie besonders sichere Wetterpropheten sind,
lassen Sie andere an ihnen teilhaben, aber ohne »Quellenangabe«.
DIE GESUNDHEIT.
Die Dame des Hauses erkundigt sich nach der Gesundheit ihrer
Gäste, aber ohne näher einzugehen, nur mit der Frage: Wie geht es
Ihnen?, falls es sich nicht um einen Kranken handelt. Bei einem
Zusammentreffen auf der Strosse ist man noch dis-
kreter. Eine Gastgeberin wird einen Gast nicht als Herrn X, der gerade
von einer Psychoanalyse kommt, oder, der einige Monate in einer
Nervenheilanstalt war, vorstellen. Man wird auch nicht über
gegenwärtige oder vergangene Krankheiten anderer sprechen, dieses
Thema ist niemals reizvoll.
DAS «LIEBE« ICH.
Ein Salon ist kein Vortragssaal. Wenn Sie kein glänzender Redner
sind, wird sich
Weitere Kostenlose Bücher