Der Händler der verfluchten Bücher (German Edition)
Slawniks Hand den kreuzförmigen Dolch.
Er genoss den bitteren Geschmack der Freiheit. Seiner Freiheit.
Endlich, nach Jahren der Ungewissheit, wusste er genau, was er tun musste.
76
In dieser Nacht war Ignazio so angespannt wie nie zuvor.
Nach Einbruch der Dunkelheit hatte er sich mit Willalme wie geplant auf den Weg zur Bibliothek des Asclepios begeben. Doch zuvor mussten sie sich noch in das Viertel von Santiago de Compostela begeben, in dem Graf Dodiko seine Unterkunft bezogen hatte. Der Bequemlichkeit liebende Adlige hatte ein standesgemäßes Quartier gewählt. Die Herberge befand sich im Zentrum der kleinen Stadt, in das man nur über die Hauptstraßen gelangte, was Ignazio angesichts der Umstände lieber vermieden hätte.
Als sie das Gasthaus betraten, trafen sie Dodiko dort jedoch nicht an. Die beiden befürchteten sofort das Schlimmste und bestürmten den Gastwirt mit Fragen, der allerdings kaum etwas wusste: Der Graf hatte zu Abend gegessen und war danach eilig fortgegangen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
»Verflucht!«, schnaubte Willalme.
Nachdem er die erste Enttäuschung überwunden hatte, inspizierte Ignazio das Zimmer, das der Graf bezogen hatte, ohne dass er einen Hinweis auf dessen Verbleib fand.
»Wir können uns jetzt nicht damit aufhalten, herauszufinden, was mit Dodiko geschehen ist«, entschied er. »Wir gehen ohne ihn zu Asclepios.« Also verließen sie das Gasthaus und tauchten in das Labyrinth der menschenleeren Gassen ein.
Obwohl die Nachtstunden gewöhnlich ein wenig erfrischende Kühle brachten, lastete heute die Schwüle in den Straßen wie in einem Schwitzbad. Während sie in Richtung der westlichen Stadtmauer eilten, grübelte Ignazio über die letzten Geschehnisse nach. Hatte Dodiko ihn verraten? Hatte er den vierten Teil des Buches etwa schon ohne ihn geborgen? Oder hatte ihn vielleicht die Heilige Vehme überfallen? In jenem Fall hätte man jedoch seine Leiche gefunden oder zumindest Anzeichen eines Kampfes. Stattdessen war das Zimmer unberührt gewesen, und laut der Aussage des Wirts hatte der Graf das Gasthaus vollkommen unbeschadet und ohne Begleitung verlassen.
Sie erreichten ein Viertel am Stadtrand. Jenseits der alten Stadtmauern, denen selbst die Invasionen der Normannenkrieger nichts hatten anhaben können, hörte man das Meer rauschen.
Ignazio schloss die Lider kurz und atmete die Salzluft ein, dann sah er geradeaus auf einen baufälligen Turm.
»Dort ist es«, sagte er. »Das ist die Bibliothek von Asclepios.«
Willalme betrachtete das auf einem quadratischen Grundriss errichtete Gebäude, das von verwitterten Zinnen gekrönt wurde. »Der sieht aber wenig vertrauenerweckend aus«, befand er.
»Lass uns hineingehen«, entgegnete Ignazio, ohne auf die Bemerkung einzugehen.
Im Turm staute sich die Feuchtigkeit und mischte sich mit dem muffigen Geruch abgestandener Luft. Ignazio und Willalme schritten in der Dunkelheit vorwärts, bis sie auf eine Treppe stießen, die sie nach oben führte. Die Stufen waren schmal und aus grob behauenem Stein, glitschig wie Flusskiesel. Vorsichtig stiegen sie hinauf, und nach ungefähr dreißig Schritten fanden sie sich vor einer verschlossenen Tür wieder.
Ignazio klopfte mit seinem Pilgerstab dagegen. »Asclepios!«, rief er laut. »Öffne! Ich bin es, Ignazio da Toledo.«
Willalme und er warteten kurze Zeit schweigend ab, doch drinnen regte sich nichts. Der Franzose begann, ungeduldig auf und ab zu laufen.
Ignazio achtete nicht auf die Nervosität seines Begleiters und klopfte noch einmal laut. »Verdammt, öffne, du alter tauber Kerl!«
Endlich hörten sie, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und ein Riegel quietschend zurückgeschoben wurde. Dann öffnete sich die Tür langsam, und ein Greis mit kurzen weißen Haaren erschien. Sein ovales Gesicht endete in einem grauen Spitzbart, und er trug ein gelbes Gewand. Es war Asclepios da Malabata, der Besitzer und Hüter der Bibliothek, die sich ganz oben in diesem Turm befand.
»Wer klopft noch so spät? Kann man das mal erfahren?«, fragte er mit schlafverklebten Augen.
»Asclepios, ich bin es, Ignazio. Erkennst du mich wieder?«
Asclepios blieb auf der Schwelle stehen und leuchtete Ignazio mit der Laterne ins Gesicht. Er musterte ihn scheinbar gleichgültig, dann sagte er: »Alvarez. Sieh an, du bist es wirklich.« Er zog die Augenbrauen hoch. »So unhöflich wie immer, einen armen alten Mann zu dieser Nachtzeit aus dem Schlaf zu reißen! Hättest du nicht bis
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