Der häusliche Herd
Es war eine Tatsache, deren Ursachen untersucht werden
müßten. Unter den jungen Leuten der guten Gesellschaft gab es keine
Tenorstimmen mehr. Gewiß hat das Tabakrauchen dies verschuldet.
Aufgemerkt! sagte sie; wir wollen jetzt mit Nachdruck singen.
Nur mutig anstimmen!
Ihr sonst so kaltes Gesicht nahm einen schmachtenden Ausdruck
an, sie sah ihn mit hinsterbenden Blicken an. Da er glaubte, daß
sie begeistert sei, wuchs auch seine Begeisterung, und er fand sie
reizend. Aus den anstoßenden Gemächern drang nicht das leiseste
Geräusch. Das verschwommene Halbdunkel des großen Salons seinen ein
einschläferndes Wonnegefühl über sie auszugießen. Wie er so hinter
ihr stand, den Kopf vorwärts geneigt, mit seiner Brust ihren Haarknoten streifend, sang er im
Seufzertone die beiden Verse:
Ach, wonnig mein Herz erbebt,
Zu dir sich, mein Blick erhebt.
Sobald aller die Melodie verklungen war, ließ sie wie eine
Maske, hinter der ihre Kälte sich barg, den leidenschaftlichen
Ausdruck wieder fallen. Er wich verlegen zurück, da er keine Lust
verspürte, ein ähnliches Abenteuer wie mit Frau Hédouin zu
beginnen.
Sie werden sich ganz gut machen, sagte sie, betonen Sie nur
etwas besser die einzelnen Takte… Hören Sie einmal mir zu. So!
Sie sang selbst und wiederholte wohl zwanzigmal »Zu dir sich
mein Blick erhebt« – indem sie die einzelnen Töne auseinanderhielt
mit der Strenge einer makellosen Frau, bei der die musikalische
Leidenschaft nur eine oberflächliche, mechanische war. Sie ließ
ihre Stimme allmählich steigen, so daß das Gemach mit ihren
gellenden Schreien erfüllt ward. Da hörten sie plötzlich eine rauhe
Stimme hinter ihnen heftig die Worte: Gnädige Frau! Gnädige Frau!
wiederholen.
Sie fuhr vor Schrecken auf, erkannte ihr Stubenmädchen Clémence
und fragte:
Nun, was gibt's?
Gnädige Frau, Ihr Herr Vater ist mit dem Gesichte unter seine
Schriften gestürzt und bewegt sich nicht mehr… Wir sind sehr
erschrocken.
Ohne sie recht verstanden zu haben, verließ Frau Duverdy
überrascht den Flügel und folgte Clémence. Octave, der sich nicht
getraute, ihr nachzugehen, blieb im Salon und ging daselbst umher.
Nach einigen Minuten unbehaglicher Ungewißheit und
Unentschlossenheit, während welcher er hastige Schritte und
verzweifelte Stimmen hörte, faßte er endlich Mut, durchschritt ein dunkles Gemach und
befand sich in dem Zimmer des Herrn Vabre.
Sämtliche Diener waren herbeigeeilt, Julie in ihrer
Küchenschürze, Clémence und Hyppolite, noch ganz mit der
Dominopartie beschäftigt, die sie eben verlassen hatten. Sie
standen sämtlich mit bestürzten Mienen um den alten Mann herum,
während Clotilde sich zu seinem Ohr neigte, ihn anrief und
flehentlichst bat, er möge ein Wort, ein einziges Wort sagen.
Aber er rührte sich noch immer nicht und blieb mit der Nase
unter seinen Papieren liegen. Er hatte mit der Stirne auf das
Tintenfaß aufgeschlagen, eine Tintenlache bedeckte ihm das linke
Auge und floß tropfenweise bis zu den Lippen hinunter.
Es ist ein Schlaganfall, sagte Octave, man kann ihn nicht da
lassen, man muß ihn zu Bett bringen.
Frau Duverdy verlor den Kopf. Die Aufregung durchwühlte nach und
nach ihr träges Blut. Sie rief wiederholt:
Sie glauben also, daß… O, mein armer Vater, mein armer
Vater!
Hyppolite, von einer eigentümlichen Ängstlichkeit und
sichtlichem Widerwillen ergriffen, beeilte sich ganz und gar nicht,
den Alten anzurühren, der in seinen Armen vielleicht gar die Seele
aushauchen konnte. Octave mußte ihm zurufen, daß er ihm helfe. Zu
zweien legten sie ihn endlich nieder.
Bringen Sie laues Wasser! sagte der junge Mann zu Julie
gewendet, und waschen Sie ihn ab!
Jetzt regte sieh Clotilde wegen ihres Gatten auf. Mußte er
gerade jetzt auswärts sein? Was sollte aus ihr werden, wenn ein
Unglück geschehe? Es war wie absichtlich, daß er niemals zu Hause
war, wenn man seiner bedurfte, und Gott weiß, daß man seiner so
selten benötigte!
Octave unterbrach sie, um ihr den Rat zu
geben, daß man nach dem Doktor Juillerat schicken solle. Kein
Mensch dachte daran. Hyppolite entfernte sich sofort, glücklich ins
Freie gelangen zu können.
Mich allein zu lassen! setzte die junge Frau fort. Ich weiß
nicht: es müssen ja Angelegenheiten verschiedener Art in Ordnung zu
bringen sein … Ach, mein armer Vater!
Soll ich die Familie unterrichten? bot sich Octave an. Ich kann
Ihre beiden Brüder rufen … Das wäre vernünftig.
Sie antwortete jedoch nicht. Zwei
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