Der Hase mit den Bernsteinaugen
Visier genommen, ob sie ein solches Geschäft betreten oder verlassen. Das riesige Kaufhaus Schiffmann, es gehört vier jüdischen Brüdern, wird systematisch von der SA ausgeräumt, eine Menge sieht zu.
Menschen verschwinden. Es wird immer schwieriger, festzustellen, wo sich jemand aufhält. Am Mittwoch dem 16. März springt Pips’ alter Freund, der Schriftsteller Egon Friedell, aus dem Fenster seiner Wohnung, als er SA-Männer den Hausmeister befragen sieht. Im März und April begehen 160 Jüdinnen und Juden Selbstmord. Juden dürfen nicht mehr in Theatern auftreten oder in Orchestern spielen. Alle Staats- und Gemeindebeamten sind entlassen; 183 jüdische Lehrerinnen und Lehrer haben ihre Arbeit verloren, ebenso alle jüdischen Anwälte und Staatsanwälte.
In diesen Tagen wandelt sich die wilde Befreiung, das Sich-Bedienen an jüdischem Eigentum, das willkürliche Verprügeln von Juden auf der Straße zu etwas Substanziellerem. Es wird deutlich, dass vieles geplant ist, dass es Befehle gibt. Am Freitag, dem 18. März, zwei Tage nachdem er in Wien eingetroffen ist, nimmt der junge SS-Leutnant Adolf Eichmann die Angelegenheit persönlich in die Hand und beteiligt sich an einer Razzia auf die IKG in der Seitenstettengasse, in deren Verlauf Dokumente beschlagnahmt werden, die eine Verbindung der Kultusgemeinde zur Kampagne für die Volksabstimmung Schuschniggs belegen. Daraufhin werden die Bibliothek und das Archiv der IKG beschlagnahmt. Eichmann ist es ein Anliegen, die besten Judaica und Hebraica für das geplante Institut zur Erforschung der Judenfrage zu erhalten.
Den Wiener Juden steht einiges bevor, das wird klar. Am 31. März verlieren jüdische Organisationen ihre Stellung als Körperschaften öffentlichen Rechts. Der Reverend der kleinen anglikanischen Kirche tauft Juden. Wer konvertiert, hat vielleicht bessere Fluchtmöglichkeiten. Vor dem Presbyterium bilden sich Schlangen. Er beschränkt die Einführung in den christlichen Glauben auf zehn Minuten, um mehr Verzweifelten helfen zu können.
Am 9. April kehrt Hitler nach Wien zurück. Seine Wagenkolonne fährt durch die Stadt und über den Ring. Zu Mittag tritt Goebbels auf den Balkon des Rathauses, es steht jetzt am Adolf-Hitler-Platz, und gibt das Resultat der Volksabstimmung bekannt: »Ich verkünde den Tag des Großdeutschen Reiches«: 99,75 Prozent haben mit Ja gestimmt und den Anschluss legitimiert.
Am 23. April wird ein Boykott jüdischer Geschäfte ausgerufen. Am selben Tag kommt die Gestapo ins Palais Ephrussi.
»Eine nie wiederkehrende Gelegenheit«
Wie kann ich über diese Zeit schreiben? Ich lese Erinnerungen, die Tagebücher Musils, sehe mir Fotos von den Menschenmassen an diesem Tag an, dem nächsten, dem übernächsten. Ich lese Wiener Zeitungen. Am Dienstag bäckt die Bäckerei Hermansky arisches Brot. Am Mittwoch werden jüdische Anwälte entlassen. Am Donnerstag werden Nichtarier aus dem Fußballclub Schwarz-Rot ausgeschlossen. Goebbels verteilt am Freitag Gratis-Radios. Arische Rasierklingen sind zu kaufen.
Ich besitze Viktors Pass mit seinen Stempeln und einen dünnen Stoß Briefe von Familienmitgliedern, und nun lege ich alles auf meinen langen Tisch. Ich lese sie wieder und wieder und beschwöre sie, mir zu sagen, wie es war, was Viktor und Emmy fühlen, während sie in ihrem Haus am Ring sitzen. Ich habe Mappen mit Notizen aus Archiven. Aber mir wird klar, dass ich das von London, von einer Bibliothek aus nicht tun kann. Und so fahre ich wieder nach Wien, ins Palais.
Ich stehe auf der Innengalerie im zweiten Stock. Ich habe ein Netsuke mitgebracht, das hellbraune von den drei Kastanien mit der kleinen weißen Made aus Elfenbein, und ich bemerke, dass ich ständig in meiner Tasche daran herumfingere, dass ich es in der Hand um und um wende. Ich halte mich am Geländer fest, sehe auf den Marmorboden hinab und denke daran, wie Emmys Garderobentisch hinunterkracht. Ich denke daran, wie die Netsuke ungestört in ihrer Vitrine ruhen.
Ich höre, wie eine Gruppe Geschäftsleute durch den Gang von der Ringstraße zu einer Besprechung in den Büros kommt, ein Wust aus Gerede und Gelächter, und ich höre, wie das ferne Echo der Straße mit ihnen hereindringt. Diese Stimmen lassen mich an Iggie denken. Er erzählte, der alte Portier, Herr Kirchner, der die Torflügel des Palais Ephrussi mit Schwung und einer tiefen Verbeugung zu öffnen pflegte, um die Kinder zum Lachen zu bringen, sei an dem Tag, an dem die Nazis kamen,
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