Der Hase mit den Bernsteinaugen
nicht genehmigte Arisierung. Aber es braucht keine Genehmigung.
Das Geräusch zerbrechender Gegenstände ist die Belohnung für eine lange Wartezeit. Diese Nacht ist voll solcher Belohnungen. Es hat lange gedauert. Diese Nacht ist die Geschichte, die Großeltern ihren Enkelkindern erzählt haben, die Geschichte, wie eines Nachts die Juden endlich bezahlen werden für alles, was sie getan, was sie den Armen geraubt haben; wie die Straßen gesäubert werden, wie Licht in alle dunklen Ecken fallen wird. Denn dies alles hat mit Schmutz zu tun, mit dem Dreck, den die Juden aus ihren stinkenden Bruchbuden in die Kaiserstadt gebracht haben, als sie sich nahmen, was uns zustand.
Überall in Wien werden Türen eingeschlagen, während Kinder sich hinter ihren Eltern verstecken, unter Betten, in Schränken - überall, nur um dem Krach zu entkommen, während Väter und Brüder festgenommen werden, zusammengeschlagen, draußen auf Lastwagen gezerrt, während Mütter und Schwestern verhöhnt und misshandelt werden. Und überall in Wien nehmen sich die Leute, was ihnen gehören sollte, was von Rechts wegen ihres ist.
Es ist nicht so, dass man nicht schlafen könnte. Man kann gar nicht ins Bett. Als die Männer und Jungen endlich gehen, sagen sie, sie würden wiederkommen, und man weiß, sie meinen es ernst. Emmy trägt ihre Perlen, sie nehmen sie ihr weg. Sie ziehen ihr die Ringe ab. Jemand hält inne und spuckt ihr gezielt vor die Füße. Und dann trampeln sie die Treppen runter und brüllen, bis sie in den Hof kommen. Einer nimmt Anlauf und tritt auf die Trümmer, dann stürmen sie durch das Tor auf den Ring, eine große Uhr unter den Mantelärmel geklemmt.
Bald wird es schneien.
An diesem grauen Morgen, am Sonntag, dem 13. März, an dem die Volksabstimmung für ein freies, deutsches, unabhängiges, soziales, christliches und vereintes Österreich hätte stattfinden sollen, liegen Nachbarn auf den Knien und schrubben die Straßen Wiens - Kinder und ältere Leute, der Mann, dem der Zeitungskiosk am Ring gehört hat, Orthodoxe, Liberale, Fromme und Radikale, die alten Männer, die ihren Goethe kannten und an Bildung glaubten, die Geigenlehrerin und ihre Mutter -, umringt von SS-Leuten, Gestapo-Männern und Parteimitgliedern, von Polizisten und von den Menschen, neben denen sie seit Jahren gelebt haben. Verhöhnt, bespuckt, angebrüllt, verprügelt, verletzt. Sie waschen die Parolen für Schuschniggs Volksabstimmung weg, sie machen Wien wieder sauber, sie machen Wien bereit. Wir danken unsrem Führer. Er hat den Juden Arbeit beschafft.
Auf einem Foto beobachtet ein junger Mann in einer glänzenden Jacke die älteren Frauen, die im Seifenwasser knien. Er hat seine Hosenbeine hochgerollt, damit sie nicht feucht werden. Hier geht es um das Schmutzige und das Saubere.
In das Haus wurde eine Bresche geschlagen. An diesem Morgen sitzen meine Urgroßmutter und mein Urgroßvater schweigend in der Bibliothek, Anna hebt die Familienfotos vom Boden auf, kehrt die Porzellanscherben und die Holzsplitter zusammen, rückt Bilder gerade, versucht die Teppiche sauber zu bekommen, die aufgestoßene Tür zu schließen.
Den ganzen Tag über donnern Geschwader der Luftwaffe im Tiefflug über Wien. Viktor und Emmy wissen nicht, was tun. Sie wissen nicht, wohin sie gehen sollen, während die ersten deutschen Truppen die Grenze überqueren und von Blumen und jubelnden Massen begrüßt werden. Es heißt, Hitler kehre heim, um das Grab seiner Mutter zu besuchen.
Ständig werden Menschen festgenommen - jeder, der eine andere politische Partei unterstützt hat, prominente Journalisten, Finanzleute, Beamte, Juden. Schuschnigg sitzt in Einzelhaft. Am Abend findet ein Fackelzug statt, angeführt von der NSDAP. In den Bars wird das Deutschlandlied gesungen. Hitler braucht sechs Stunden von Linz bis Wien. Es dauert so lange, weil sich überall die Massen drängen.
Am Montag dem 14. März trifft Hitler ein: »Bevor die Abendschatten über Wien sanken, als der Wind nachließ und die vielen Flaggen in festlicher Starre ruhten, wurde die große Stunde Wirklichkeit und der Führer des vereinten deutschen Volkes betrat die Hauptstadt der Ostmark.«
Der Wiener Kardinal hat angeordnet, alle Kirchenglocken zu läuten; die Glocken der Votivkirche gegenüber dem Palais Ephrussi beginnen am Nachmittag zu läuten, der Lärm der Wehrmachtswagen, die um den Ring knattern, lässt das Haus erzittern. Überall Fahnen: Hakenkreuzfahnen, österreichische Fahnen mit
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