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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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aufgemalten Hakenkreuzen. Kinder klettern auf die Linden. In den Schaufenstern der Buchhandlungen finden sich bereits Karten, auf denen das neue Deutschland zu sehen ist: eine deutsche Nation von Elsass-Lothringen bis ins Sudetenland, von der Ostsee bis Tirol. Die halbe Karte ist Deutschland.
    Am Dienstag dem 15. März strömen die Massen bereits zu früher Stunde herbei, durch die Schottengasse, am Palais Ephrussi vorbei, den Ring entlang, alle in eine Richtung, zum Heldenplatz, dem riesigen Platz vor der Hofburg. 200000 Menschen drängen sich dort und in den Straßen. Sie klammern sich an die Statuen, an die Äste der Bäume, an die Geländer. Gegen den Himmel zeichnen sich Figuren ab, die auf den Brüstungen stehen. Um elf Uhr tritt Hitler auf den Balkon. Seine Stimme ist kaum zu vernehmen. Als er zum Schlusswort anhebt, lässt ihn der Lärm minutenlang nicht zu Wort kommen. Man kann ihn bis zur Schottengasse hören. Und dann: »Als Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich! Deutschland und sein neues Glied, die Nationalsozialistische Partei und die Wehrmacht unseres Reiches - Sieg Heil!« Die Szenen der Verblendung bei Hitlers Ankunft hätten jeder Beschreibung gespottet, schrieb die Neue Basler Zeitung.
    Dafür ist der Ring angelegt, für Menschenmassen, als Paradeplatz der Emotionen, der Uniformen. Als Student in Wien hatte Hitler zwei gigantische Triumphbögen geplant, um den Heldenplatz als architektonischen Höhepunkt zu vollenden: »eine geradezu ideale Lösung für Massenaufmärsche«. Vor vielen Jahren hatte er das kaiserliche Maskenspiel der Habsburger bestaunt. Und nun wurde die Ringstraße wieder »ein Zauber aus Tausendundeiner Nacht«, aber aus einer dieser Geschichten, wo jemand sich vor deinen Augen in etwas Schauriges verwandelt, seine Gestalt wüst verformt, wenn du die falschen Worte sprichst.
    Um halb zwei kehrt Hitler zurück, um sich das Massenspektakel mit marschierenden Soldaten und Lastkraftwagen noch einmal anzusehen, während vierhundert Flugzeuge am Himmel vorüberdonnern. Eine Volksabstimmung wird angekündigt - eine andere, diesmal legitim. »Bist Du mit der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?« Auf dem blassrosa Stimmzettel ist ein großer Kreis für das Ja und ein viel kleinerer für das Nein eingezeichnet. Damit die Wiener auch ja wissen, welche Stimme sie abzugeben haben, sind die Straßenbahnen mit rotem Flaggentuch verkleidet, der Stephansdom ist rot drapiert, die Leopoldstadt, das alte jüdische Viertel, versinkt unter Nazifahnen. Bei dieser echten Volksabstimmung ist es den Juden nicht gestattet, ihre Stimme abzugeben.
    Es herrscht Terror. Leute werden auf der Straße aufgegriffen und auf Lastautos gepfercht. Einige Tausend politisch Engagierte, Juden, Unruhestifter werden nach Dachau geschickt. In diesen ersten paar Tagen kommen Nachrichten von Freunden, die das Land verlassen, verzweifelte Anrufe, sie berichten von Menschen, die verhaftet wurden. Emmys Verwandte Frank und Mitzi Wooster sind abgereist. Ihre engsten Freunde, die Gutmanns, sind fort, sie sind am 13. gefahren. Die Rothschilds ebenfalls. Bernhard Altmann, ein Geschäftspartner Viktors, ein Freund aus zahllosen Abendessen, ist schon weg: Es braucht einiges, um einfach aus der Tür zu gehen und alles zurückzulassen.
    Manchmal kann man die Leute aus den Polizeistationen loskaufen. Viktor hilft einigen Verwandten, die über die Grenze in die Tschechoslowakei müssen, doch er und Emmy scheinen unfähig zu einer Entscheidung. Freunde sagen ihnen, sie sollen gehen. Viktor ist wie erstarrt. Er kann dieses Haus, das Haus seines Vaters und Großvaters, nicht zurücklassen. Nicht die Bank, nicht seine Bibliothek einfach aufgeben.
    Andere haben den Haushalt verlassen. Wer will schon mit Juden in Verbindung gebracht werden? Drei Bedienstete sind geblieben. Die Köchin und Anna, die sich darum kümmern, dass es noch Kaffee für den Baron und die Baronin gibt, und der Portier Herr Kirchner, der das kleine Zimmer neben dem Tor bewohnt und anscheinend keine Familie hat.
    Stunde um Stunde verwandelt sich die Stadt, während immer mehr deutsche Soldaten auftauchen; Uniformierte an jeder Straßenecke. Die Währung ist jetzt die Reichsmark. Auf jüdische Geschäfte wird »Jude« geschmiert, Kunden werden ins

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