Der Hase mit den Bernsteinaugen
dreht das Licht in der Bibliothek ab, als wären sie unsichtbar, wenn sie im Dunkeln sitzen, aber der Lärm dringt bis ins Haus, in das Zimmer, in ihre Lungen. Unten auf der Straße wird einer zusammengeschlagen. Was sollen sie machen? Wie lange kann man so tun, als geschehe das alles gar nicht?
Manche Freunde packen einen Koffer und gehen auf die Straße, sie bahnen sich ihren Weg durch die brodelnden, turbulenten Massen der ekstatischen Wiener, zum Westbahnhof. Der Nachtzug nach Prag geht um elf Uhr fünfzehn, um neun bereits aber ist er vollkommen überfüllt. Uniformierte trampeln durch den Zug und nehmen Leute mit.
Um elf Uhr fünfzehn hängen Nazifahnen von den Brüstungen der Regierungsgebäude. Um halb ein Uhr nachts gibt Bundespräsident Miklas nach und vereidigt das Kabinett Seyß-Inquart. Um ein Uhr acht verkündet ein Major Klausner im Radio »tiefbewegt in dieser festlichen Stunde, Österreich ist frei, Österreich ist nationalsozialistisch«.
Vor der tschechischen Grenze bilden sich Schlangen von Menschen zu Fuß oder in Autos. Im Radio werden der Badenweiler und der Hohenfriedberger Marsch gespielt. Dazwischen Parolen. Die ersten Fenster jüdischer Geschäfte werden eingeschlagen.
In dieser ersten Nacht geschieht es, dass die Geräusche von der Straße in den Hof des Palais Ephrussi dringen, der Lärm hallt wider von den Wänden und vom Dach. Dann trampeln Füße die Treppe herauf, die dreiunddreißig flachen Stufen zu den Wohnräumen im zweiten Stock.
Fäuste donnern an die Tür, jemand drückt lange auf die Klingel, und dann sind da acht, zehn Männer, ein ganzer Haufen von ihnen in Uniform, einige mit Hakenkreuzarmschleifen, einige kennen sie. Manche sind halbe Knaben. Es ist ein Uhr früh, keiner schläft, alle sind angezogen. Viktor, Emmy und Rudolf werden in die Bibliothek gestoßen.
In dieser ersten Nacht schwärmen die Männer durch die Wohnung. Rufe ertönen von der gegenüberliegenden Hofseite, ein paar haben den Salon mit den französischen Möbeln und dem Porzellan entdeckt. Einer lacht, während sie Emmys Kleiderschrank durchwühlen. Jemand klimpert ein paar Noten auf dem Klavier. Einige sind im Arbeitszimmer, ziehen Schubladen auf, werfen auf den Schreibtischen alles durcheinander, stoßen die Foliobände vom Lesepult in der Ecke zu Boden. Sie kommen in die Bibliothek und werfen die Globen von ihren Ständern. Dieses krampfhafte Unordnungschaffen, Durcheinanderschmeißen, Zubodenfegen kann man kaum Plünderung nennen; es ist ein Muskelspiel, ein Knacken mit den Fingerknöcheln, eine Lockerungsübung. Die Leute im Gang prüfen, schauen, stöbern auf, suchen, was es zu holen gibt.
Sie nehmen die silbernen Kerzenleuchter im Esszimmer, hochgehalten von den beschwipst wirkenden Faunen, kleine Tierfiguren aus Malachit von den Kaminsimsen, silberne Zigarettenetuis, Geld in einem Clip vom Schreibtisch in Viktors Arbeitszimmer. Eine kleine russische Uhr, rosa Email und Gold, die im Salon die Stunden anzeigte. Und die große Uhr aus der Bibliothek mit der von Säulen gehaltenen goldenen Kuppel.
Jahrelang sind sie an dem Haus vorbeigegangen, haben hinter den Fenstern Gesichter gesehen, haben einen Blick in den Hof geworfen, wenn der Portier die Torflügel offen hielt, während die Kutschpferde hineintrotteten. Jetzt sind sie drinnen, endlich. So also leben die Juden, das haben die Juden mit unserem Geld gemacht - Zimmer nach Zimmer vollgestopft mit üppigen Reichtümern. Das da sind nur ein paar Souvenirs, ein bisschen Umverteilung. Es ist ein Anfang.
Die letzte Tür, zu der sie kommen, führt in Emmys Ankleidezimmer an der Ecke, ins Zimmer mit der Vitrine, in der die Netsuke liegen, und sie fegen alles vom Schreibtisch, den sie als Garderobentisch benutzt: den kleinen Spiegel und das Porzellan und die Silberdosen und die Blumen von den Wiesen in Kövecses, die Anna in der Vase arrangiert hat, und sie zerren den Tisch hinaus in den Gang.
Sie stoßen Emmy, Viktor und Rudolf an die Wand, drei von ihnen heben den Schreibtisch hoch und hieven ihn über das Geländer, bis er, Holz, Vergoldung, Intarsien splittern krachend, auf den Pflastersteinen im Hof unten zerschellt.
Dieser Schreibtisch - das Hochzeitsgeschenk von Fanny und Jules aus Paris - braucht lange, um zu fallen. Das Geräusch hallt vom Glasdach wider. Zerborstene Schubladen streuen Briefe über den Hof.
Ihr glaubt, wir gehören euch, ihr widerlichen Scheiß-Ausländer. Jetzt kommt ihr dran, Scheiß-Juden.
Das ist eine wilde,
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