Der Hase mit den Bernsteinaugen
ist Herzversagen. Unterschrieben hat ein »Frederik Skipsa, matrikar«. Unten links eine handschriftliche Notiz: Die Verstorbene war Bürgerin des Deutschen Reichs, dieses Dokument wurde nach den Reichsgesetzen ausgefertigt.
Ich denke an ihren Selbstmord. Sie wollte wohl keine Bürgerin des Deutschen Reichs sein und dort leben. Ich frage mich, ob es zu viel für Emmy war - diese schöne, witzige und zornige Frau -, dass der einzige Platz in ihrem Leben, wo sie vollkommene Freiheit erlebt hatte, sich nun ebenfalls als Falle erwies.
Elisabeth erfuhr die Nachricht durch ein Telegramm zwei Tage später, Iggie und Rudolf drei Tage danach in Amerika. Emmy wurde auf dem Friedhof des Dorfes nahe Kövecses begraben. Und mein Urgroßvater Viktor war allein.
Auf dem langen Tisch in meinem Atelier lege ich meine schmale Spur blauer Briefe aus dem Jahr 1938 aus. Achtzehn sind es, eine schwache Fährte durch den Winter. Sie stammen hauptsächlich von Elisabeth, ihrem Onkel Pips und Verwandten in Paris; man versuchte herauszufinden, wo sich alle aufhielten, wie man Ausreisegenehmigungen erlangen, wie man Geld als Sicherheit auftreiben könnte. Wie sollten sie Viktor aus der Slowakei herausbekommen? Sein Besitz war beschlagnahmt, er war mitten auf dem Land gestrandet, mit einem österreichischen Pass, der bis 1940 gültig gewesen wäre, jetzt aber nutzlos war, da Österreich seine Eigenständigkeit verloren hatte. Da Viktor ausgewiesen worden war, konnte er nicht bei einem deutschen Konsulat um einen deutschen Pass ansuchen. Er hatte Schritte unternommen, die tschechische Staatsbürgerschaft zu erhalten, aber dann war auch dieses Land von der Landkarte verschwunden. Er besaß bloß ein Dokument, das nachwies, dass er Wiener Bürger war, sowie ein weiteres über die Niederlegung seiner russischen Staatsbürgerschaft und die Annahme der österreichischen im Jahr 1914. Aber das war noch in der Zeit der Habsburger gewesen.
Am 7. November 1938 betrat ein junger Jude die deutsche Botschaft in Paris und schoss auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Am 8. wurden kollektive Strafmaßnahmen gegen die Juden verkündet: Jüdische Kinder durften keine arischen Schulen mehr besuchen, jüdische Zeitungen wurden verboten. Am Abend des 9. starb vom Rath in Paris. Hitler entschied, die spontanen Demonstrationen sollten nicht mehr eingedämmt und die Polizeikräfte zurückgezogen werden.
Die sogenannte Kristallnacht ist eine Nacht des Schreckens: 680 Juden begehen in Wien Selbstmord, siebenundzwanzig werden ermordet. In ganz Österreich und Deutschland werden Synagogen niedergebrannt, Geschäfte geplündert, Juden verprügelt und zusammengetrieben, um ins Gefängnis oder in Lager geschafft zu werden.
Die Briefe, hauchdünne Flugpostbriefe, werden zunehmend verzweifelter. Pips schreibt aus der Schweiz: »Meine Briefe sind eine Art Zwischenstation für Freunde und Verwandte geworden, die einander nicht schreiben können … Ich mache mir schreckliche Sorgen um sie, da ich aus zuverlässigen Quellen höre, dass früher oder später alle jüdischen Männer in das sogenannte >Protektorat< in Polen geschickt werden sollen.« Er bittet Freunde, für eine Einreiseerlaubnis Viktors in England zu intervenieren. Und Elisabeth schreibt an die britischen Behörden: »Infolge der tiefgreifenden politischen Umwälzungen in der Tschechoslowakei und besonders in der Slowakei, wo sein gegenwärtiger Wohnsitz sich befindet, kann seine Lage nicht mehr als sicher angesehen werden. Willkürliche Maßnahmen gegen Juden, Einwohner wie Zuwanderer, sind bereits ergriffen worden, und die vollständige Unterwerfung des Landes unter die deutsche Oberhoheit ist Rechtfertigung genug, in Bälde >legale< Maßnahmen gegen Juden zu ergreifen.«
Am 1. März 1939 erhält Viktor sein Visum, »Good for a Single Journey«, von der britischen Passstelle in Prag. Am selben Tag verlassen Elisabeth und die Buben die Schweiz. Sie nehmen den Zug nach Calais und die Fähre nach Dover. Am 4. März kommt Viktor am Flughafen Croydon südlich von London an. Elisabeth holt ihn ab und bringt ihn ins St. Ermin’s Hotel in Madeira Park, Tunbridge Wells, wo Henk für sie alle Zimmer genommen hat.
Viktor hat einen einzigen Koffer. Er trägt denselben Anzug, den Elisabeth beim Weg zum Bahnhof in Wien an ihm gesehen hat. Sie bemerkt, dass er an der Uhrkette immer noch den Schlüssel zum Bücherschrank in der Bibliothek im Palais trägt, dem Schrank mit seinen frühen gedruckten
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